Hiob 14, 1-6.13.15-17

Liebe Gemeinde,
der heutige Sonntag ist der vorletzte im Kirchenjahr. In einer Woche werden wir den Ewigkeitssonntag
feiern, an dem unser Blick – staunend und bewegt – die unendliche Weite von Gottes Ewigkeit betrachtet,
jenseits aller Maße von Zeit und Raum.
Doch bevor wir zu solcher Herrlichkeit gelangen, steht der heutige Sonntag vor uns. Heute ist die
Erfahrung von ganz anderer Art. Heute berühren wir den Tiefpunkt menschlicher Erfahrung.
Heute bedenken wir jene Momente, in denen die Menschheit – und jeder von uns persönlich – spürt, dass
sie an die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten, ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Endlichkeit gestoßen
ist.
Heute ist der Tag, an dem all jene Parolen, die den menschlichen Pioniergeist feiern, uns zu einem flatus
vocis werden, zu einem Atemzug, der nur dazu dient, einen Laut hervorzubringen.
In den 90er Jahren zeigte eine Uhrenwerbung einen grau bärtigen Sportler, der sich anschickte, auf einer
großen Welle zu surfen. Der Slogan lautete: ‚No limits‘.
‚No limits‘ scheint zum Leitspruch unserer Epoche geworden zu sein. Man spricht nicht mehr von
Grenzen oder Endlichkeit. Jede Grenze soll beseitigt, jeder Limit ignoriert werden.
Wir wissen, wie das endet. Eine Zeit lang funktioniert es. Doch eines Tages merken wir, dass wir eben
doch endliche, begrenzte Geschöpfe sind. Dass wir unsere Grenzen haben. Dass es Dinge gibt, die wir
nicht schaffen. Und dass es auch Dinge gibt, die wir gar nicht erst tun sollten. Wir erfahren diese
Wirklichkeit am eigenen Leib und erkennen dadurch, wie das ausgewogene Verhältnis zwischen dem
Wunsch, sich zu erproben, und der Realität der menschlichen Existenz beschaffen sein muss: Ohne
Neugier und ohne die Lust, die eigenen Grenzen zu erweitern, gibt es keinen Fortschritt. Doch die
Vorstellung zu nähren, Grenzen dürften nicht existieren und seien immer nur etwas Schlechtes, ist
unvernünftig und gefährlich.
Wir sind begrenzt. Wir können nicht vollkommen sein – zumindest nicht lange und schon gar nicht
lebenslang.
Wenn man den Tiefpunkt erreicht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bricht man zusammen und stirbt,
oder man steht auf und lebt neu.
Hiob hat den Tiefpunkt erreicht. Er ist krank, allein, von allen verlassen, aus der Gemeinschaft
ausgestoßen. Er ist ein lebender Toter. Der Unverständnis der anderen ihm gegenüber entspricht Hiobs
eigenes Unverständnis gegenüber einem Gott, der ein begrenztes Geschöpf wie den Menschen straft – ein
Geschöpf, das Gott selbst so geschaffen hat: begrenzt. Der Mensch ist endlich, unfähig, das Gute vollkommen zu tun,                                                                                                                                  unfähig, in würdiger Weise vor Gott zu treten.
Und dieser Gott richtet den Menschen, dieses kleine, unvollkommene Geschöpf. Warum? Die Antwort
folgt etwas später.
Hiobs Rede ließe sich etwa so paraphrasieren:
‚Herr, ich bin ein endliches, begrenztes Geschöpf, wie du wohl weißt, denn du bist mein Schöpfer. Und du
weißt, dass ich jetzt am Ende meiner Kräfte bin; ich leide, und am Ende meines Lebens steht, und das
dauert nicht mehr lange hin, der Tod. Und ich lebe Tag für Tag und weiß mich von dir gerichtet, und
ich weiß auch, dass ich mit meinen Kräften niemals mich so würdig machen kann, um vor dir zu
bestehen. Ich bitte dich nicht einmal mehr darum, nicht zu leiden; ich bitte dich nur um eine Pause, einen
Moment, in dem ich Atem schöpfen kann und nicht unter deinem strengen und unabwendbaren Urteil
stehe.‘
Hiobs Erfahrung ist sehr weit verbreitet. Sie zeigt sich in vielen Formen. Zum Beispiel in der eines
Menschen, der schwer krank ist. Vielleicht ist dieser Mensch ans Bett gebunden oder leidet an einer
Krankheit wie Alzheimer. Wenn dieser Mensch zuhause lebt, dann ist Hiobs Erfahrung auch die des
pflegenden Angehörigen, der den Kranken versorgt. Der Kranke leidet unter der Krankheit; der pflegende
Angehörige droht unter der Last zusammenzubrechen, die immer schwerer wird, wenn er keine Pause
zum Atemholen bekommt.
Wenn man sich mit dem Leiden abgefunden hat, wagt man nicht einmal mehr zu hoffen, nicht zu leiden;
man begnügt sich mit der Hoffnung auf eine kurze Pause.
Wenn man den Tiefpunkt erreicht, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bricht man zusammen und stirbt,
oder man steht auf und lebt neu.
Der Tod ist in jedem Fall da. Im ersten Fall – ob im eigentlichen oder im übertragenen Sinn – gibt es nur
den Tod. Im zweiten Fall aber steht nach dem Tod die Auferstehung.
Doch die Auferstehung wird niemals aus eigener Kraft errungen. Die Erfahrung, den Tiefpunkt zu
erreichen, macht deutlich, dass alles, was danach kommt, keine persönliche Leistung sein kann, denn die
eigenen Kräfte waren erschöpft.
Alles, was von diesem Moment an geschieht, ist Geschenk.
Die Erfahrung der äußersten Grenze lässt erkennen, dass nichts von dem, was wir im Leben haben oder
sind, uns zusteht. Nicht einmal das Leben selbst steht uns zu. Wenn uns aber nichts zusteht, dann ist alles
Gute, das wir haben, ein Geschenk.
Und wenn uns alles genommen wird, bleibt uns als Geschenk die Beziehung zu Gott im Glauben. All dies
lehrt uns niemand; es steigt aus der Tiefe der Seele empor, wenn wir die Grenze wirklich erfahren haben.
Und wenn es aus der Tiefe kommt, dann deshalb, weil jemand es uns eingegossen, eingepflanzt hat.
Die Auferstehung kommt von außen. Sie kommt daher, dass unsere Seele Gott vertrauend sich hat fallen
lassen. Das Vertrauen auf Gott ruft Gott zum Handeln.
Doch der Zeitpunkt von Gottes Handeln ist niemals vorhersehbar nach dem Takt des menschlichen
Lebens. Gott antwortet nicht immer sofort. Manchmal schweigt er eine Zeitlang. Er schweigt – und sein
Schweigen verunsichert uns und macht uns ängstlich. Oder, im Gegenteil, es macht uns zornig: Ich leide
und Gott hilft mir nicht? Dann ist Gott wohl gleichgültig gegenüber menschlichem Leiden.
In Wirklichkeit ist Gott nicht gleichgültig. Doch wenn er antwortet, gibt er uns oft nicht das, worum wir
gebeten haben, sondern das, was wir brauchen, um uns weiterzuentwickeln und auf ein neues Leben
zuzugehen, ein anderes, als wir uns vorgestellt hatten. Ein neues Leben, das jedoch immer ein Weg ist,
den wir gemeinsam mit Gott gehen.
Wenn Gott handelt, antwortet er auf das Vertrauen dessen, der sich ihm überlässt: Das ist die Antwort auf
die Frage: ‚Warum richtet Gott ein Geschöpf wie den Menschen, obwohl er weiß, dass der Mensch sich
nicht zu ihm erheben kann?‘
Gott will, dass uns die Erfahrung der Grenze lehre, dass nicht unsere Kräfte der Schlüssel zu unserer
Beziehung mit ihm sind, sondern Glaube und Vertrauen.
Das ist der Sprung des Glaubens.

Und Gott schenkt die Kraft, die nötig ist, um aufzuerstehen, um sich zu öffnen wie ein Samenkorn, aus
dem ein neuer Keim hervorsprießt.
Man wird nie wieder wie zuvor. Wenn man aufersteht, bleibt man stets man selbst, aber in neuer,
verwandelter, geläuterter Weise.
Das frühere Leben ist der Same des neuen Lebens – ob dieses neue Leben eine neue Phase unseres
irdischen Lebens sei, in der vieles sich verändert und die Ordnung unserer Prioritäten neu geordnet wird,
oder ob dieses neue Leben dasjenige ist, das uns in Gottes Ewigkeit verheißen ist.
Möge der Herr uns an die Hand nehmen und uns auf diesem Weg in das neue Leben führen – auf Erden
und im Himmel.
Amen.

Vorletzter Sonntag – Anna Belli