Dtn 6,4–9

Höre Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und
diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie
deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt
und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst.
Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn
tragen, und du sollst sie an die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.
Dtn 6,4–9 (Zürcher Bibel 2007)

„God first“ lautet der Titel eines Buches des evangelischen Theologen Ingolf U. Dalferth, das
2018 im Nachgang zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation erschienen ist. Es handelt, wie
der Untertitel sagt, von der „reformatorischen Revolution der christlichen Denkungsart“. In
der Tat war die Reformation nichts Geringeres als eine „spirituelle Revolution“ (Dalferth), die
nicht nur gewaltige kirchliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Umbrüche nach
sich zog, sondern vor allem auf einem radikal neuen Gottesverständnis fußte. Dies steht bei
Luther ganz im Zentrum seiner reformatorischen Entdeckung.
„God first“ – das kann man auch als Absage an die Götter unserer Tage verstehen, mag es
sich um „America first“, „Österreich zuerst“ oder die Verabsolutierung menschlicher Werte
handeln. Woran Du Dein Herz hängst, so Luther, das ist dein Gott. Und so gibt es heute eine
Vielzahl von alten und neuen Göttern, deren Verehrung im Widerspruch zum ersten Gebot
und unserem heutigen Predigttext, dem Sch e ma Israel, stehen.
Das radikal Neue in Luthers Theologie war nicht etwa eine bessere, passgenaue Antwort
auf die ihn im Kloster umtreibende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Vielmehr gelangte der Wittenberger Reformator zu der Erkenntnis, dass diese Frage als
solche falsch gestellt war und in die Irre führen musste, weil sie in ihrem Kampf um göttliche
Anerkennung eine Weise sündiger Selbstbezogenheit ist, die am Kreuz Christi scheitert und
gerichtet wird.
Nach alter rabbinischer Anweisung soll jeder Jude am Morgen und am Abend das Sch e ma
sprechen. Täglich erinnert dieses Gebet an den einzigen Trost Israels im Leben und im
Sterben. Eine Legende erzählt, der Stammvater Jakob habe, als er im Sterben lag, seinen
Söhnen das Ziel der Wege Gottes künden wollen. Doch auf einmal befiel in die Angst, seine

2

Söhne könnten dem Gott Israels untreu werden und die Stimme versagt ihm. Da riefen sie
ihrem Vater zu: „Höre Israel …!“ Und Jakob, der ja auch den Namen Israel trägt, habe darauf
mit einem Segenswort geantwortet.
In seinem Kleinen Katechismus hat Luther den Sinn des ersten Gebotes und damit auch
des Sch e ma prägnant und bis heute unüberholt zusammengefasst: „Wir sollen Gott über alle
Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Davon war Luther freilich in seiner Klosterzeit, wie er
rückblickend schreibt, weit entfernt. In der Vorrede zum ersten Band der Ausgabe seiner
lateinischen Schriften 1545 schreibt er: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch
lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf
vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja ich hasste
vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen
Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht
genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art
von Unheil niedergedrückt sind und das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch
durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner
Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich in wildem und verwirrtem Gewissen.“
Erst als ihm der wahre Sinn des Pauluswortes in Röm 1,17 aufging, dass der Gerechte
allein aus Glauben lebt – wie übrigen schon beim Propheten Habakuk im Alten Testament zu
lesen steht (Hab 2,4), fand Luther den Frieden und die Erlösung, nach der er sich so sehr
verzehrt hatte. Nun erkannte er Gott als den, der nicht so sehr die Gerechtigkeit fordert,
sondern der den Sünder gerecht macht durch den Glauben.
In diesem Moment, so Luther, zeigte ihm nicht nur die Bibel ein ganz anderes Gesicht,
sondern auch Gott selbst. Er erkannte das Gesicht des barmherzigen Vaters, dessen
Gesichtszüge auf dem Antlitz des gekreuzigten Christus aufscheinen. Es war Luther, als
werde er geradewegs in Paradies entrückt. Aber er blieb mit beiden Beinen auf der Erde,
dessen gewiss, dass der gnädige Gott und Schöpfer der Welt mitten im Diesseits gegenwärtig
ist.
So schön das alles klingen mag, wie fern mag uns doch Luther mit seinen existentiellen
Fragen vorkommen, wie fremd. Vor Jahrzehnten wurde noch über darüber debattiert, ob die
Frage nach der Existenz Gottes, zumal im Angesichts des Bösen, der Weltkriege und der
Shoa, nicht viel radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott sei. Der Protestatheismus des
20. Jahrhunderts treibt viele Menschen schon längst nicht mehr um. In breiten Teilen Europas
macht sich eine Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott, ja, auch gegenüber jeder
Form von Religion breit, die man als Indifferentismus bezeichnet. Viele Zeitgenossen arbeiten

3

sich an keiner irgendwie gearteten Gottesfrage mehr ab. Ihnen fehlt nichts, wo Gott fehlt. Sie
haben nicht etwa nur Gott vergessen, sondern überhaupt vergessen, was sie aus Sicht derer,
die weiter an Gott glauben, vergessen haben. Das legt jedenfalls der Befund der in
Deutschland vor zwei Jahren veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung
nahe.
Verständlich die Forderung, die Gottesfrage neu ins Zentrum der kirchlichen
Verkündigung zu rücken. Sie ist insoweit gut und richtig, als sich auch innerhalb der Kirche
die Tendenz beobachten lässt, das Evangelium von der freien Gnade Gottes zu moralisieren
und durch Moralpredigten verlorenes Terrain in der Öffentlichkeit zurückzuerobern. Aber
vielleicht verhält es sich ja ganz anders. Vielleicht besteht die Aufgabe gar nicht darin, eine
der heutigen Zeit angemessene Form der Gottesfrage zu suchen, „sondern die Gottesfrage so
durchzuexperimentieren, daß wir die Frage nach Gott als die Behinderung des Erscheinens
Gottes als Gottes, und das heißt: als des gnädigen, erfahren“, wie der viel zu früh verstorbene
Züricher Theologe Walter Mostert schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Und vielleicht ist
gerade darin Luther überraschend aktuell.
Die Möglichkeit, heute von Gott zu reden, hängt nicht von einer wie auch immer gearteten
Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten
Gottesoffenbarung. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst
durch sie in der angemessenen Weise provoziert und radikal umgeformt, indem das
menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen
wird. Gottes Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des
Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage. Indem Menschen im Glauben erkennen, wie
sie von Gott erkannt sind, findet die Gottesfrage ihre überraschende Antwort. Unversehens
sieht sich das nach Gott fragende Subjekt selbst in Frage gestellt. Aber nicht, dass nun die
abstrakte Frage nach Gott durch die nicht minder abstrakte Frage nach dem Wesen des
Menschen ersetzt würde. Gottes Frage lautet nicht: „Was ist der Mensch?“, sondern: „Adam,
wo bist du?“ (Gen 3,9).
Nicht die sogenannte Gottesfrage, sondern das Hörenkönnen ist die Bedingung dafür, das
sich Gott uns offenbaren kann. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. „Höre Israel!“ so beginnt
unser Predigttext, das Sch e ma. Gott meldet sich auf irritierende, den Welt- und Lebenslauf
heilvoll unterbrechende und in eine neue Richtung lenkende Weise zu Wort, so wie es Mose
beim brennenden Dornbusch widerfahren ist. Oder Paulus auf dem Weg zu Damaskus, als
ihm der auferstandene Christus erschien und ihn anrief: „Saul. Saul, was verfolgst du mich?“

4

Der neutestamentlichen Überlieferung nach hat Jesus das Sch e ma Israel in einem Atemzug
mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Leviticus 19,18 zitiert. Die Aufforderung, Gott und den
Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, wird auch als Doppelgebot der Liebe bezeichnet.
Noch immer hält sich der hartnäckige Irrtum, das Doppelgebot der Liebe stammt erst von
Jesus, auch sei die Liebe zu Gott im Unterschied zur angeblich alttestamentlich-jüdischen
Angst vor Gott ebenso eine christliche Entdeckung wie die grenzenlose Liebe zum
Mitmenschen, die im Alten Testament und im Judentum auf die Angehörigen des eigenen
Volkes beschränkt bleibe. Dabei ist sich doch Jesus nach Darstellung des Markusevangeliums
(Mk 12,28–34) mit jenem Schriftgelehrten, der ihn nach dem größten Gebot fragt, in dieser
Frage völlig einig.
Im Lukasevangelium gibt sich der Schriftgelehrte mit Jesu Antwort freilich noch nicht
zufrieden und bohrt weiter nach: Wer ist denn mein Nächster? Jesus erzählt darauf die
Bespielgeschichte vom barmherzigen Samariter. Es gehört zu Wirkungsgeschichte von Lk 10,
25–37, dass viele Christen davon überzeugt sind, allein die Nächstenliebe und nicht etwa auch
die Liebe zu Gott bezeichne die Grundidee ihrer Religion. So wird das Sch e ma Israel nicht nur
vom Judentum separiert, sondern auch noch ganz und gar in Ethische aufgelöst. Während man
dem Judentum stereotyp Gesetzlichkeit vorwirft, ist es in Wahrheit doch ein moralisierendes
Christentum, das den Glauben an den Gott Israels auf ein moralisches Gesetz reduziert,
wogegen das Sch e ma im Deuteronomium zwar Tora, Weisung ist, aber eben gerade kein
niederdrückendes Gesetz, sondern Evangelium, Freudenbotschaft und Trostwort, auch in den
Dunkelheiten der Geschichte und des persönlichen Lebens. Im Sohar, dem wichtigsten Werk
der jüdischen Kabbala, heißt es: „Wenn Menschen im Gebet die Einheit des NAMENS in
Liebe und Ehrfurcht verkünden, so zerreißt die die Erde umringende Finsternis, und es wird
das Antlitz des Himmlischen Vaters sichtbar, das das Weltall erhellt.“
Was aber heißt es, diesen Gott zu lieben? Es bedeutet zunächst, die Liebe dieses Gottes zu
uns Menschen zu erwidern. Das hebräische ahab steht für unterschiedliche Formen der Liebe.
Der Prophet Hosea hat das Verhältnis Jahwes zu Israel im Bild der Liebe eines Mannes zu
seiner Ehefrau beschrieben. Im Deuteronomium steht wohl eher das Bild der Liebe eines
Vaters zu seinen Kindern vor Augen. Gott liebt Israel wie seinen Sohn. So ist also die Rede
vom Vater und seiner Liebe zu seinen Kindern keineswegs erst neutestamentlichen
Ursprungs. Sie gewinnt aber dadurch, dass sie auf Jesus als Sohn Gottes bezogen wird, einen
neuen Klang. So werden nun auch diejenigen, die nicht aus Israel stammen, durch den
Glauben an Christus zu Kindern Gottes.

5

Der erste Johannesbrief macht klar, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man seinen
Mitmenschen hasst oder ihm gegenüber lieblos ist. Die Liebe zu Gott geht aber nicht in der
Nächstenliebe auf, so gewiss das eine nicht vom anderen zu trennen ist. Die Liebe zu Gott
besteht darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, wie Luther das 1.
Gebot auslegt. Die Liebe zu Gott beschränkt sich nicht auf die theoretische Annahme einer
alles bestimmenden Wirklichkeit, sondern sie zeigt sich darin, auf diese alles bestimmende
Wirklichkeit täglich und mit der ganzen persönlichen Existenz zu vertrauen und in diesem
Vertrauen das eigene Leben zu leben. Dazu gehört auch das Gebet.
Was es bedeuten kann, die ganze eigene Existenz von Gott durchdringen zu lassen, zeigt
die jüdische Sitte der Gebetsriemen und der Mesusa. Wie Sie wissen, binden sich orthodoxe
Juden beim täglichen Gebet des Sch e ma Israel Riemen mit kleinen Gebetskapseln an den
linken Arm und die Stirn. Die Kapseln, die an der Stirn getragen wird, enthalten Texte aus
Exodus und Deuteronomium. Die Mesusa wird an Haustüren und Toren angebracht und
erinnert die, die ein- und ausgehen, an den Gott Israels als den wahren Besitzer und Wächter
von Haus und Stadt. So wird die Aufforderung am Ende unseres Textes ganz wörtlich
genommen.
Gewiss kann eine solche Praxis auch im Rituellen erstarren, ganz so, wie auch christliche
Riten und Gebräuche zur bloßen Konvention absinken können. Die jüdischen Gebetsriemen
sollen ihre Träger aber täglich aufs Neue daran erinnern, dass sie Gott mit ihrer ganzen
Existenz lieben und vertrauen dürfen und dass die Liebe zu Gott in der Liebe zum Nächsten
und im Halten der Gebote Gottes praktisch werden soll.
Dass auch wir Christen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen dürfen und
dass die Liebe zu Gott nur im Einklang mit der Liebe zum Nächsten bestehen kann, führt uns
sinnenfällig das Abendmahl vor Augen, das wir gleich feiern wollen. So möge es uns darin
stärken, gemeinsam mit Israel Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
unserer ganzen Kraft.

 

Dtn 6,4–9

Höre Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und
diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie
deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt
und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst.
Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn
tragen, und du sollst sie an die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.
Dtn 6,4–9 (Zürcher Bibel 2007)

„God first“ lautet der Titel eines Buches des evangelischen Theologen Ingolf U. Dalferth, das
2018 im Nachgang zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation erschienen ist. Es handelt, wie
der Untertitel sagt, von der „reformatorischen Revolution der christlichen Denkungsart“. In
der Tat war die Reformation nichts Geringeres als eine „spirituelle Revolution“ (Dalferth), die
nicht nur gewaltige kirchliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Umbrüche nach
sich zog, sondern vor allem auf einem radikal neuen Gottesverständnis fußte. Dies steht bei
Luther ganz im Zentrum seiner reformatorischen Entdeckung.
„God first“ – das kann man auch als Absage an die Götter unserer Tage verstehen, mag es
sich um „America first“, „Österreich zuerst“ oder die Verabsolutierung menschlicher Werte
handeln. Woran Du Dein Herz hängst, so Luther, das ist dein Gott. Und so gibt es heute eine
Vielzahl von alten und neuen Göttern, deren Verehrung im Widerspruch zum ersten Gebot
und unserem heutigen Predigttext, dem Sch e ma Israel, stehen.
Das radikal Neue in Luthers Theologie war nicht etwa eine bessere, passgenaue Antwort
auf die ihn im Kloster umtreibende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Vielmehr gelangte der Wittenberger Reformator zu der Erkenntnis, dass diese Frage als
solche falsch gestellt war und in die Irre führen musste, weil sie in ihrem Kampf um göttliche
Anerkennung eine Weise sündiger Selbstbezogenheit ist, die am Kreuz Christi scheitert und
gerichtet wird.
Nach alter rabbinischer Anweisung soll jeder Jude am Morgen und am Abend das Sch e ma
sprechen. Täglich erinnert dieses Gebet an den einzigen Trost Israels im Leben und im
Sterben. Eine Legende erzählt, der Stammvater Jakob habe, als er im Sterben lag, seinen
Söhnen das Ziel der Wege Gottes künden wollen. Doch auf einmal befiel in die Angst, seine

2

Söhne könnten dem Gott Israels untreu werden und die Stimme versagt ihm. Da riefen sie
ihrem Vater zu: „Höre Israel …!“ Und Jakob, der ja auch den Namen Israel trägt, habe darauf
mit einem Segenswort geantwortet.
In seinem Kleinen Katechismus hat Luther den Sinn des ersten Gebotes und damit auch
des Sch e ma prägnant und bis heute unüberholt zusammengefasst: „Wir sollen Gott über alle
Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Davon war Luther freilich in seiner Klosterzeit, wie er
rückblickend schreibt, weit entfernt. In der Vorrede zum ersten Band der Ausgabe seiner
lateinischen Schriften 1545 schreibt er: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch
lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf
vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja ich hasste
vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen
Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht
genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art
von Unheil niedergedrückt sind und das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch
durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner
Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich in wildem und verwirrtem Gewissen.“
Erst als ihm der wahre Sinn des Pauluswortes in Röm 1,17 aufging, dass der Gerechte
allein aus Glauben lebt – wie übrigen schon beim Propheten Habakuk im Alten Testament zu
lesen steht (Hab 2,4), fand Luther den Frieden und die Erlösung, nach der er sich so sehr
verzehrt hatte. Nun erkannte er Gott als den, der nicht so sehr die Gerechtigkeit fordert,
sondern der den Sünder gerecht macht durch den Glauben.
In diesem Moment, so Luther, zeigte ihm nicht nur die Bibel ein ganz anderes Gesicht,
sondern auch Gott selbst. Er erkannte das Gesicht des barmherzigen Vaters, dessen
Gesichtszüge auf dem Antlitz des gekreuzigten Christus aufscheinen. Es war Luther, als
werde er geradewegs in Paradies entrückt. Aber er blieb mit beiden Beinen auf der Erde,
dessen gewiss, dass der gnädige Gott und Schöpfer der Welt mitten im Diesseits gegenwärtig
ist.
So schön das alles klingen mag, wie fern mag uns doch Luther mit seinen existentiellen
Fragen vorkommen, wie fremd. Vor Jahrzehnten wurde noch über darüber debattiert, ob die
Frage nach der Existenz Gottes, zumal im Angesichts des Bösen, der Weltkriege und der
Shoa, nicht viel radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott sei. Der Protestatheismus des
20. Jahrhunderts treibt viele Menschen schon längst nicht mehr um. In breiten Teilen Europas
macht sich eine Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott, ja, auch gegenüber jeder
Form von Religion breit, die man als Indifferentismus bezeichnet. Viele Zeitgenossen arbeiten

3

sich an keiner irgendwie gearteten Gottesfrage mehr ab. Ihnen fehlt nichts, wo Gott fehlt. Sie
haben nicht etwa nur Gott vergessen, sondern überhaupt vergessen, was sie aus Sicht derer,
die weiter an Gott glauben, vergessen haben. Das legt jedenfalls der Befund der in
Deutschland vor zwei Jahren veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung
nahe.
Verständlich die Forderung, die Gottesfrage neu ins Zentrum der kirchlichen
Verkündigung zu rücken. Sie ist insoweit gut und richtig, als sich auch innerhalb der Kirche
die Tendenz beobachten lässt, das Evangelium von der freien Gnade Gottes zu moralisieren
und durch Moralpredigten verlorenes Terrain in der Öffentlichkeit zurückzuerobern. Aber
vielleicht verhält es sich ja ganz anders. Vielleicht besteht die Aufgabe gar nicht darin, eine
der heutigen Zeit angemessene Form der Gottesfrage zu suchen, „sondern die Gottesfrage so
durchzuexperimentieren, daß wir die Frage nach Gott als die Behinderung des Erscheinens
Gottes als Gottes, und das heißt: als des gnädigen, erfahren“, wie der viel zu früh verstorbene
Züricher Theologe Walter Mostert schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Und vielleicht ist
gerade darin Luther überraschend aktuell.
Die Möglichkeit, heute von Gott zu reden, hängt nicht von einer wie auch immer gearteten
Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten
Gottesoffenbarung. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst
durch sie in der angemessenen Weise provoziert und radikal umgeformt, indem das
menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen
wird. Gottes Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des
Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage. Indem Menschen im Glauben erkennen, wie
sie von Gott erkannt sind, findet die Gottesfrage ihre überraschende Antwort. Unversehens
sieht sich das nach Gott fragende Subjekt selbst in Frage gestellt. Aber nicht, dass nun die
abstrakte Frage nach Gott durch die nicht minder abstrakte Frage nach dem Wesen des
Menschen ersetzt würde. Gottes Frage lautet nicht: „Was ist der Mensch?“, sondern: „Adam,
wo bist du?“ (Gen 3,9).
Nicht die sogenannte Gottesfrage, sondern das Hörenkönnen ist die Bedingung dafür, das
sich Gott uns offenbaren kann. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. „Höre Israel!“ so beginnt
unser Predigttext, das Sch e ma. Gott meldet sich auf irritierende, den Welt- und Lebenslauf
heilvoll unterbrechende und in eine neue Richtung lenkende Weise zu Wort, so wie es Mose
beim brennenden Dornbusch widerfahren ist. Oder Paulus auf dem Weg zu Damaskus, als
ihm der auferstandene Christus erschien und ihn anrief: „Saul. Saul, was verfolgst du mich?“

4

Der neutestamentlichen Überlieferung nach hat Jesus das Sch e ma Israel in einem Atemzug
mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Leviticus 19,18 zitiert. Die Aufforderung, Gott und den
Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, wird auch als Doppelgebot der Liebe bezeichnet.
Noch immer hält sich der hartnäckige Irrtum, das Doppelgebot der Liebe stammt erst von
Jesus, auch sei die Liebe zu Gott im Unterschied zur angeblich alttestamentlich-jüdischen
Angst vor Gott ebenso eine christliche Entdeckung wie die grenzenlose Liebe zum
Mitmenschen, die im Alten Testament und im Judentum auf die Angehörigen des eigenen
Volkes beschränkt bleibe. Dabei ist sich doch Jesus nach Darstellung des Markusevangeliums
(Mk 12,28–34) mit jenem Schriftgelehrten, der ihn nach dem größten Gebot fragt, in dieser
Frage völlig einig.
Im Lukasevangelium gibt sich der Schriftgelehrte mit Jesu Antwort freilich noch nicht
zufrieden und bohrt weiter nach: Wer ist denn mein Nächster? Jesus erzählt darauf die
Bespielgeschichte vom barmherzigen Samariter. Es gehört zu Wirkungsgeschichte von Lk 10,
25–37, dass viele Christen davon überzeugt sind, allein die Nächstenliebe und nicht etwa auch
die Liebe zu Gott bezeichne die Grundidee ihrer Religion. So wird das Sch e ma Israel nicht nur
vom Judentum separiert, sondern auch noch ganz und gar in Ethische aufgelöst. Während man
dem Judentum stereotyp Gesetzlichkeit vorwirft, ist es in Wahrheit doch ein moralisierendes
Christentum, das den Glauben an den Gott Israels auf ein moralisches Gesetz reduziert,
wogegen das Sch e ma im Deuteronomium zwar Tora, Weisung ist, aber eben gerade kein
niederdrückendes Gesetz, sondern Evangelium, Freudenbotschaft und Trostwort, auch in den
Dunkelheiten der Geschichte und des persönlichen Lebens. Im Sohar, dem wichtigsten Werk
der jüdischen Kabbala, heißt es: „Wenn Menschen im Gebet die Einheit des NAMENS in
Liebe und Ehrfurcht verkünden, so zerreißt die die Erde umringende Finsternis, und es wird
das Antlitz des Himmlischen Vaters sichtbar, das das Weltall erhellt.“
Was aber heißt es, diesen Gott zu lieben? Es bedeutet zunächst, die Liebe dieses Gottes zu
uns Menschen zu erwidern. Das hebräische ahab steht für unterschiedliche Formen der Liebe.
Der Prophet Hosea hat das Verhältnis Jahwes zu Israel im Bild der Liebe eines Mannes zu
seiner Ehefrau beschrieben. Im Deuteronomium steht wohl eher das Bild der Liebe eines
Vaters zu seinen Kindern vor Augen. Gott liebt Israel wie seinen Sohn. So ist also die Rede
vom Vater und seiner Liebe zu seinen Kindern keineswegs erst neutestamentlichen
Ursprungs. Sie gewinnt aber dadurch, dass sie auf Jesus als Sohn Gottes bezogen wird, einen
neuen Klang. So werden nun auch diejenigen, die nicht aus Israel stammen, durch den
Glauben an Christus zu Kindern Gottes.

5

Der erste Johannesbrief macht klar, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man seinen
Mitmenschen hasst oder ihm gegenüber lieblos ist. Die Liebe zu Gott geht aber nicht in der
Nächstenliebe auf, so gewiss das eine nicht vom anderen zu trennen ist. Die Liebe zu Gott
besteht darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, wie Luther das 1.
Gebot auslegt. Die Liebe zu Gott beschränkt sich nicht auf die theoretische Annahme einer
alles bestimmenden Wirklichkeit, sondern sie zeigt sich darin, auf diese alles bestimmende
Wirklichkeit täglich und mit der ganzen persönlichen Existenz zu vertrauen und in diesem
Vertrauen das eigene Leben zu leben. Dazu gehört auch das Gebet.
Was es bedeuten kann, die ganze eigene Existenz von Gott durchdringen zu lassen, zeigt
die jüdische Sitte der Gebetsriemen und der Mesusa. Wie Sie wissen, binden sich orthodoxe
Juden beim täglichen Gebet des Sch e ma Israel Riemen mit kleinen Gebetskapseln an den
linken Arm und die Stirn. Die Kapseln, die an der Stirn getragen wird, enthalten Texte aus
Exodus und Deuteronomium. Die Mesusa wird an Haustüren und Toren angebracht und
erinnert die, die ein- und ausgehen, an den Gott Israels als den wahren Besitzer und Wächter
von Haus und Stadt. So wird die Aufforderung am Ende unseres Textes ganz wörtlich
genommen.
Gewiss kann eine solche Praxis auch im Rituellen erstarren, ganz so, wie auch christliche
Riten und Gebräuche zur bloßen Konvention absinken können. Die jüdischen Gebetsriemen
sollen ihre Träger aber täglich aufs Neue daran erinnern, dass sie Gott mit ihrer ganzen
Existenz lieben und vertrauen dürfen und dass die Liebe zu Gott in der Liebe zum Nächsten
und im Halten der Gebote Gottes praktisch werden soll.
Dass auch wir Christen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen dürfen und
dass die Liebe zu Gott nur im Einklang mit der Liebe zum Nächsten bestehen kann, führt uns
sinnenfällig das Abendmahl vor Augen, das wir gleich feiern wollen. So möge es uns darin
stärken, gemeinsam mit Israel Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
unserer ganzen Kraft.

 

Dtn 6,4–9

Höre Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und
diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie
deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt
und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst.
Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn
tragen, und du sollst sie an die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.
Dtn 6,4–9 (Zürcher Bibel 2007)

„God first“ lautet der Titel eines Buches des evangelischen Theologen Ingolf U. Dalferth, das
2018 im Nachgang zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation erschienen ist. Es handelt, wie
der Untertitel sagt, von der „reformatorischen Revolution der christlichen Denkungsart“. In
der Tat war die Reformation nichts Geringeres als eine „spirituelle Revolution“ (Dalferth), die
nicht nur gewaltige kirchliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Umbrüche nach
sich zog, sondern vor allem auf einem radikal neuen Gottesverständnis fußte. Dies steht bei
Luther ganz im Zentrum seiner reformatorischen Entdeckung.
„God first“ – das kann man auch als Absage an die Götter unserer Tage verstehen, mag es
sich um „America first“, „Österreich zuerst“ oder die Verabsolutierung menschlicher Werte
handeln. Woran Du Dein Herz hängst, so Luther, das ist dein Gott. Und so gibt es heute eine
Vielzahl von alten und neuen Göttern, deren Verehrung im Widerspruch zum ersten Gebot
und unserem heutigen Predigttext, dem Sch e ma Israel, stehen.
Das radikal Neue in Luthers Theologie war nicht etwa eine bessere, passgenaue Antwort
auf die ihn im Kloster umtreibende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Vielmehr gelangte der Wittenberger Reformator zu der Erkenntnis, dass diese Frage als
solche falsch gestellt war und in die Irre führen musste, weil sie in ihrem Kampf um göttliche
Anerkennung eine Weise sündiger Selbstbezogenheit ist, die am Kreuz Christi scheitert und
gerichtet wird.
Nach alter rabbinischer Anweisung soll jeder Jude am Morgen und am Abend das Sch e ma
sprechen. Täglich erinnert dieses Gebet an den einzigen Trost Israels im Leben und im
Sterben. Eine Legende erzählt, der Stammvater Jakob habe, als er im Sterben lag, seinen
Söhnen das Ziel der Wege Gottes künden wollen. Doch auf einmal befiel in die Angst, seine

2

Söhne könnten dem Gott Israels untreu werden und die Stimme versagt ihm. Da riefen sie
ihrem Vater zu: „Höre Israel …!“ Und Jakob, der ja auch den Namen Israel trägt, habe darauf
mit einem Segenswort geantwortet.
In seinem Kleinen Katechismus hat Luther den Sinn des ersten Gebotes und damit auch
des Sch e ma prägnant und bis heute unüberholt zusammengefasst: „Wir sollen Gott über alle
Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Davon war Luther freilich in seiner Klosterzeit, wie er
rückblickend schreibt, weit entfernt. In der Vorrede zum ersten Band der Ausgabe seiner
lateinischen Schriften 1545 schreibt er: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch
lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf
vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja ich hasste
vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen
Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht
genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art
von Unheil niedergedrückt sind und das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch
durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner
Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich in wildem und verwirrtem Gewissen.“
Erst als ihm der wahre Sinn des Pauluswortes in Röm 1,17 aufging, dass der Gerechte
allein aus Glauben lebt – wie übrigen schon beim Propheten Habakuk im Alten Testament zu
lesen steht (Hab 2,4), fand Luther den Frieden und die Erlösung, nach der er sich so sehr
verzehrt hatte. Nun erkannte er Gott als den, der nicht so sehr die Gerechtigkeit fordert,
sondern der den Sünder gerecht macht durch den Glauben.
In diesem Moment, so Luther, zeigte ihm nicht nur die Bibel ein ganz anderes Gesicht,
sondern auch Gott selbst. Er erkannte das Gesicht des barmherzigen Vaters, dessen
Gesichtszüge auf dem Antlitz des gekreuzigten Christus aufscheinen. Es war Luther, als
werde er geradewegs in Paradies entrückt. Aber er blieb mit beiden Beinen auf der Erde,
dessen gewiss, dass der gnädige Gott und Schöpfer der Welt mitten im Diesseits gegenwärtig
ist.
So schön das alles klingen mag, wie fern mag uns doch Luther mit seinen existentiellen
Fragen vorkommen, wie fremd. Vor Jahrzehnten wurde noch über darüber debattiert, ob die
Frage nach der Existenz Gottes, zumal im Angesichts des Bösen, der Weltkriege und der
Shoa, nicht viel radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott sei. Der Protestatheismus des
20. Jahrhunderts treibt viele Menschen schon längst nicht mehr um. In breiten Teilen Europas
macht sich eine Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott, ja, auch gegenüber jeder
Form von Religion breit, die man als Indifferentismus bezeichnet. Viele Zeitgenossen arbeiten

3

sich an keiner irgendwie gearteten Gottesfrage mehr ab. Ihnen fehlt nichts, wo Gott fehlt. Sie
haben nicht etwa nur Gott vergessen, sondern überhaupt vergessen, was sie aus Sicht derer,
die weiter an Gott glauben, vergessen haben. Das legt jedenfalls der Befund der in
Deutschland vor zwei Jahren veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung
nahe.
Verständlich die Forderung, die Gottesfrage neu ins Zentrum der kirchlichen
Verkündigung zu rücken. Sie ist insoweit gut und richtig, als sich auch innerhalb der Kirche
die Tendenz beobachten lässt, das Evangelium von der freien Gnade Gottes zu moralisieren
und durch Moralpredigten verlorenes Terrain in der Öffentlichkeit zurückzuerobern. Aber
vielleicht verhält es sich ja ganz anders. Vielleicht besteht die Aufgabe gar nicht darin, eine
der heutigen Zeit angemessene Form der Gottesfrage zu suchen, „sondern die Gottesfrage so
durchzuexperimentieren, daß wir die Frage nach Gott als die Behinderung des Erscheinens
Gottes als Gottes, und das heißt: als des gnädigen, erfahren“, wie der viel zu früh verstorbene
Züricher Theologe Walter Mostert schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Und vielleicht ist
gerade darin Luther überraschend aktuell.
Die Möglichkeit, heute von Gott zu reden, hängt nicht von einer wie auch immer gearteten
Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten
Gottesoffenbarung. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst
durch sie in der angemessenen Weise provoziert und radikal umgeformt, indem das
menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen
wird. Gottes Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des
Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage. Indem Menschen im Glauben erkennen, wie
sie von Gott erkannt sind, findet die Gottesfrage ihre überraschende Antwort. Unversehens
sieht sich das nach Gott fragende Subjekt selbst in Frage gestellt. Aber nicht, dass nun die
abstrakte Frage nach Gott durch die nicht minder abstrakte Frage nach dem Wesen des
Menschen ersetzt würde. Gottes Frage lautet nicht: „Was ist der Mensch?“, sondern: „Adam,
wo bist du?“ (Gen 3,9).
Nicht die sogenannte Gottesfrage, sondern das Hörenkönnen ist die Bedingung dafür, das
sich Gott uns offenbaren kann. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. „Höre Israel!“ so beginnt
unser Predigttext, das Sch e ma. Gott meldet sich auf irritierende, den Welt- und Lebenslauf
heilvoll unterbrechende und in eine neue Richtung lenkende Weise zu Wort, so wie es Mose
beim brennenden Dornbusch widerfahren ist. Oder Paulus auf dem Weg zu Damaskus, als
ihm der auferstandene Christus erschien und ihn anrief: „Saul. Saul, was verfolgst du mich?“

4

Der neutestamentlichen Überlieferung nach hat Jesus das Sch e ma Israel in einem Atemzug
mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Leviticus 19,18 zitiert. Die Aufforderung, Gott und den
Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, wird auch als Doppelgebot der Liebe bezeichnet.
Noch immer hält sich der hartnäckige Irrtum, das Doppelgebot der Liebe stammt erst von
Jesus, auch sei die Liebe zu Gott im Unterschied zur angeblich alttestamentlich-jüdischen
Angst vor Gott ebenso eine christliche Entdeckung wie die grenzenlose Liebe zum
Mitmenschen, die im Alten Testament und im Judentum auf die Angehörigen des eigenen
Volkes beschränkt bleibe. Dabei ist sich doch Jesus nach Darstellung des Markusevangeliums
(Mk 12,28–34) mit jenem Schriftgelehrten, der ihn nach dem größten Gebot fragt, in dieser
Frage völlig einig.
Im Lukasevangelium gibt sich der Schriftgelehrte mit Jesu Antwort freilich noch nicht
zufrieden und bohrt weiter nach: Wer ist denn mein Nächster? Jesus erzählt darauf die
Bespielgeschichte vom barmherzigen Samariter. Es gehört zu Wirkungsgeschichte von Lk 10,
25–37, dass viele Christen davon überzeugt sind, allein die Nächstenliebe und nicht etwa auch
die Liebe zu Gott bezeichne die Grundidee ihrer Religion. So wird das Sch e ma Israel nicht nur
vom Judentum separiert, sondern auch noch ganz und gar in Ethische aufgelöst. Während man
dem Judentum stereotyp Gesetzlichkeit vorwirft, ist es in Wahrheit doch ein moralisierendes
Christentum, das den Glauben an den Gott Israels auf ein moralisches Gesetz reduziert,
wogegen das Sch e ma im Deuteronomium zwar Tora, Weisung ist, aber eben gerade kein
niederdrückendes Gesetz, sondern Evangelium, Freudenbotschaft und Trostwort, auch in den
Dunkelheiten der Geschichte und des persönlichen Lebens. Im Sohar, dem wichtigsten Werk
der jüdischen Kabbala, heißt es: „Wenn Menschen im Gebet die Einheit des NAMENS in
Liebe und Ehrfurcht verkünden, so zerreißt die die Erde umringende Finsternis, und es wird
das Antlitz des Himmlischen Vaters sichtbar, das das Weltall erhellt.“
Was aber heißt es, diesen Gott zu lieben? Es bedeutet zunächst, die Liebe dieses Gottes zu
uns Menschen zu erwidern. Das hebräische ahab steht für unterschiedliche Formen der Liebe.
Der Prophet Hosea hat das Verhältnis Jahwes zu Israel im Bild der Liebe eines Mannes zu
seiner Ehefrau beschrieben. Im Deuteronomium steht wohl eher das Bild der Liebe eines
Vaters zu seinen Kindern vor Augen. Gott liebt Israel wie seinen Sohn. So ist also die Rede
vom Vater und seiner Liebe zu seinen Kindern keineswegs erst neutestamentlichen
Ursprungs. Sie gewinnt aber dadurch, dass sie auf Jesus als Sohn Gottes bezogen wird, einen
neuen Klang. So werden nun auch diejenigen, die nicht aus Israel stammen, durch den
Glauben an Christus zu Kindern Gottes.

5

Der erste Johannesbrief macht klar, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man seinen
Mitmenschen hasst oder ihm gegenüber lieblos ist. Die Liebe zu Gott geht aber nicht in der
Nächstenliebe auf, so gewiss das eine nicht vom anderen zu trennen ist. Die Liebe zu Gott
besteht darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, wie Luther das 1.
Gebot auslegt. Die Liebe zu Gott beschränkt sich nicht auf die theoretische Annahme einer
alles bestimmenden Wirklichkeit, sondern sie zeigt sich darin, auf diese alles bestimmende
Wirklichkeit täglich und mit der ganzen persönlichen Existenz zu vertrauen und in diesem
Vertrauen das eigene Leben zu leben. Dazu gehört auch das Gebet.
Was es bedeuten kann, die ganze eigene Existenz von Gott durchdringen zu lassen, zeigt
die jüdische Sitte der Gebetsriemen und der Mesusa. Wie Sie wissen, binden sich orthodoxe
Juden beim täglichen Gebet des Sch e ma Israel Riemen mit kleinen Gebetskapseln an den
linken Arm und die Stirn. Die Kapseln, die an der Stirn getragen wird, enthalten Texte aus
Exodus und Deuteronomium. Die Mesusa wird an Haustüren und Toren angebracht und
erinnert die, die ein- und ausgehen, an den Gott Israels als den wahren Besitzer und Wächter
von Haus und Stadt. So wird die Aufforderung am Ende unseres Textes ganz wörtlich
genommen.
Gewiss kann eine solche Praxis auch im Rituellen erstarren, ganz so, wie auch christliche
Riten und Gebräuche zur bloßen Konvention absinken können. Die jüdischen Gebetsriemen
sollen ihre Träger aber täglich aufs Neue daran erinnern, dass sie Gott mit ihrer ganzen
Existenz lieben und vertrauen dürfen und dass die Liebe zu Gott in der Liebe zum Nächsten
und im Halten der Gebote Gottes praktisch werden soll.
Dass auch wir Christen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen dürfen und
dass die Liebe zu Gott nur im Einklang mit der Liebe zum Nächsten bestehen kann, führt uns
sinnenfällig das Abendmahl vor Augen, das wir gleich feiern wollen. So möge es uns darin
stärken, gemeinsam mit Israel Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
unserer ganzen Kraft.

 

Dtn 6,4–9

Höre Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR. Und du sollst den HERRN, deinen
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und
diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben, und du sollst sie
deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt
und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du dich erhebst.
Du sollst sie als Zeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn
tragen, und du sollst sie an die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore.
Dtn 6,4–9 (Zürcher Bibel 2007)

„God first“ lautet der Titel eines Buches des evangelischen Theologen Ingolf U. Dalferth, das
2018 im Nachgang zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation erschienen ist. Es handelt, wie
der Untertitel sagt, von der „reformatorischen Revolution der christlichen Denkungsart“. In
der Tat war die Reformation nichts Geringeres als eine „spirituelle Revolution“ (Dalferth), die
nicht nur gewaltige kirchliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Umbrüche nach
sich zog, sondern vor allem auf einem radikal neuen Gottesverständnis fußte. Dies steht bei
Luther ganz im Zentrum seiner reformatorischen Entdeckung.
„God first“ – das kann man auch als Absage an die Götter unserer Tage verstehen, mag es
sich um „America first“, „Österreich zuerst“ oder die Verabsolutierung menschlicher Werte
handeln. Woran Du Dein Herz hängst, so Luther, das ist dein Gott. Und so gibt es heute eine
Vielzahl von alten und neuen Göttern, deren Verehrung im Widerspruch zum ersten Gebot
und unserem heutigen Predigttext, dem Sch e ma Israel, stehen.
Das radikal Neue in Luthers Theologie war nicht etwa eine bessere, passgenaue Antwort
auf die ihn im Kloster umtreibende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Vielmehr gelangte der Wittenberger Reformator zu der Erkenntnis, dass diese Frage als
solche falsch gestellt war und in die Irre führen musste, weil sie in ihrem Kampf um göttliche
Anerkennung eine Weise sündiger Selbstbezogenheit ist, die am Kreuz Christi scheitert und
gerichtet wird.
Nach alter rabbinischer Anweisung soll jeder Jude am Morgen und am Abend das Sch e ma
sprechen. Täglich erinnert dieses Gebet an den einzigen Trost Israels im Leben und im
Sterben. Eine Legende erzählt, der Stammvater Jakob habe, als er im Sterben lag, seinen
Söhnen das Ziel der Wege Gottes künden wollen. Doch auf einmal befiel in die Angst, seine

2

Söhne könnten dem Gott Israels untreu werden und die Stimme versagt ihm. Da riefen sie
ihrem Vater zu: „Höre Israel …!“ Und Jakob, der ja auch den Namen Israel trägt, habe darauf
mit einem Segenswort geantwortet.
In seinem Kleinen Katechismus hat Luther den Sinn des ersten Gebotes und damit auch
des Sch e ma prägnant und bis heute unüberholt zusammengefasst: „Wir sollen Gott über alle
Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Davon war Luther freilich in seiner Klosterzeit, wie er
rückblickend schreibt, weit entfernt. In der Vorrede zum ersten Band der Ausgabe seiner
lateinischen Schriften 1545 schreibt er: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch
lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf
vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja ich hasste
vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen
Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht
genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art
von Unheil niedergedrückt sind und das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch
durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzufügt und uns mit seiner
Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich in wildem und verwirrtem Gewissen.“
Erst als ihm der wahre Sinn des Pauluswortes in Röm 1,17 aufging, dass der Gerechte
allein aus Glauben lebt – wie übrigen schon beim Propheten Habakuk im Alten Testament zu
lesen steht (Hab 2,4), fand Luther den Frieden und die Erlösung, nach der er sich so sehr
verzehrt hatte. Nun erkannte er Gott als den, der nicht so sehr die Gerechtigkeit fordert,
sondern der den Sünder gerecht macht durch den Glauben.
In diesem Moment, so Luther, zeigte ihm nicht nur die Bibel ein ganz anderes Gesicht,
sondern auch Gott selbst. Er erkannte das Gesicht des barmherzigen Vaters, dessen
Gesichtszüge auf dem Antlitz des gekreuzigten Christus aufscheinen. Es war Luther, als
werde er geradewegs in Paradies entrückt. Aber er blieb mit beiden Beinen auf der Erde,
dessen gewiss, dass der gnädige Gott und Schöpfer der Welt mitten im Diesseits gegenwärtig
ist.
So schön das alles klingen mag, wie fern mag uns doch Luther mit seinen existentiellen
Fragen vorkommen, wie fremd. Vor Jahrzehnten wurde noch über darüber debattiert, ob die
Frage nach der Existenz Gottes, zumal im Angesichts des Bösen, der Weltkriege und der
Shoa, nicht viel radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott sei. Der Protestatheismus des
20. Jahrhunderts treibt viele Menschen schon längst nicht mehr um. In breiten Teilen Europas
macht sich eine Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach Gott, ja, auch gegenüber jeder
Form von Religion breit, die man als Indifferentismus bezeichnet. Viele Zeitgenossen arbeiten

3

sich an keiner irgendwie gearteten Gottesfrage mehr ab. Ihnen fehlt nichts, wo Gott fehlt. Sie
haben nicht etwa nur Gott vergessen, sondern überhaupt vergessen, was sie aus Sicht derer,
die weiter an Gott glauben, vergessen haben. Das legt jedenfalls der Befund der in
Deutschland vor zwei Jahren veröffentlichten sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung
nahe.
Verständlich die Forderung, die Gottesfrage neu ins Zentrum der kirchlichen
Verkündigung zu rücken. Sie ist insoweit gut und richtig, als sich auch innerhalb der Kirche
die Tendenz beobachten lässt, das Evangelium von der freien Gnade Gottes zu moralisieren
und durch Moralpredigten verlorenes Terrain in der Öffentlichkeit zurückzuerobern. Aber
vielleicht verhält es sich ja ganz anders. Vielleicht besteht die Aufgabe gar nicht darin, eine
der heutigen Zeit angemessene Form der Gottesfrage zu suchen, „sondern die Gottesfrage so
durchzuexperimentieren, daß wir die Frage nach Gott als die Behinderung des Erscheinens
Gottes als Gottes, und das heißt: als des gnädigen, erfahren“, wie der viel zu früh verstorbene
Züricher Theologe Walter Mostert schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Und vielleicht ist
gerade darin Luther überraschend aktuell.
Die Möglichkeit, heute von Gott zu reden, hängt nicht von einer wie auch immer gearteten
Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten
Gottesoffenbarung. Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst
durch sie in der angemessenen Weise provoziert und radikal umgeformt, indem das
menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen
wird. Gottes Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des
Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage. Indem Menschen im Glauben erkennen, wie
sie von Gott erkannt sind, findet die Gottesfrage ihre überraschende Antwort. Unversehens
sieht sich das nach Gott fragende Subjekt selbst in Frage gestellt. Aber nicht, dass nun die
abstrakte Frage nach Gott durch die nicht minder abstrakte Frage nach dem Wesen des
Menschen ersetzt würde. Gottes Frage lautet nicht: „Was ist der Mensch?“, sondern: „Adam,
wo bist du?“ (Gen 3,9).
Nicht die sogenannte Gottesfrage, sondern das Hörenkönnen ist die Bedingung dafür, das
sich Gott uns offenbaren kann. Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. „Höre Israel!“ so beginnt
unser Predigttext, das Sch e ma. Gott meldet sich auf irritierende, den Welt- und Lebenslauf
heilvoll unterbrechende und in eine neue Richtung lenkende Weise zu Wort, so wie es Mose
beim brennenden Dornbusch widerfahren ist. Oder Paulus auf dem Weg zu Damaskus, als
ihm der auferstandene Christus erschien und ihn anrief: „Saul. Saul, was verfolgst du mich?“

4

Der neutestamentlichen Überlieferung nach hat Jesus das Sch e ma Israel in einem Atemzug
mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Leviticus 19,18 zitiert. Die Aufforderung, Gott und den
Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, wird auch als Doppelgebot der Liebe bezeichnet.
Noch immer hält sich der hartnäckige Irrtum, das Doppelgebot der Liebe stammt erst von
Jesus, auch sei die Liebe zu Gott im Unterschied zur angeblich alttestamentlich-jüdischen
Angst vor Gott ebenso eine christliche Entdeckung wie die grenzenlose Liebe zum
Mitmenschen, die im Alten Testament und im Judentum auf die Angehörigen des eigenen
Volkes beschränkt bleibe. Dabei ist sich doch Jesus nach Darstellung des Markusevangeliums
(Mk 12,28–34) mit jenem Schriftgelehrten, der ihn nach dem größten Gebot fragt, in dieser
Frage völlig einig.
Im Lukasevangelium gibt sich der Schriftgelehrte mit Jesu Antwort freilich noch nicht
zufrieden und bohrt weiter nach: Wer ist denn mein Nächster? Jesus erzählt darauf die
Bespielgeschichte vom barmherzigen Samariter. Es gehört zu Wirkungsgeschichte von Lk 10,
25–37, dass viele Christen davon überzeugt sind, allein die Nächstenliebe und nicht etwa auch
die Liebe zu Gott bezeichne die Grundidee ihrer Religion. So wird das Sch e ma Israel nicht nur
vom Judentum separiert, sondern auch noch ganz und gar in Ethische aufgelöst. Während man
dem Judentum stereotyp Gesetzlichkeit vorwirft, ist es in Wahrheit doch ein moralisierendes
Christentum, das den Glauben an den Gott Israels auf ein moralisches Gesetz reduziert,
wogegen das Sch e ma im Deuteronomium zwar Tora, Weisung ist, aber eben gerade kein
niederdrückendes Gesetz, sondern Evangelium, Freudenbotschaft und Trostwort, auch in den
Dunkelheiten der Geschichte und des persönlichen Lebens. Im Sohar, dem wichtigsten Werk
der jüdischen Kabbala, heißt es: „Wenn Menschen im Gebet die Einheit des NAMENS in
Liebe und Ehrfurcht verkünden, so zerreißt die die Erde umringende Finsternis, und es wird
das Antlitz des Himmlischen Vaters sichtbar, das das Weltall erhellt.“
Was aber heißt es, diesen Gott zu lieben? Es bedeutet zunächst, die Liebe dieses Gottes zu
uns Menschen zu erwidern. Das hebräische ahab steht für unterschiedliche Formen der Liebe.
Der Prophet Hosea hat das Verhältnis Jahwes zu Israel im Bild der Liebe eines Mannes zu
seiner Ehefrau beschrieben. Im Deuteronomium steht wohl eher das Bild der Liebe eines
Vaters zu seinen Kindern vor Augen. Gott liebt Israel wie seinen Sohn. So ist also die Rede
vom Vater und seiner Liebe zu seinen Kindern keineswegs erst neutestamentlichen
Ursprungs. Sie gewinnt aber dadurch, dass sie auf Jesus als Sohn Gottes bezogen wird, einen
neuen Klang. So werden nun auch diejenigen, die nicht aus Israel stammen, durch den
Glauben an Christus zu Kindern Gottes.

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Der erste Johannesbrief macht klar, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man seinen
Mitmenschen hasst oder ihm gegenüber lieblos ist. Die Liebe zu Gott geht aber nicht in der
Nächstenliebe auf, so gewiss das eine nicht vom anderen zu trennen ist. Die Liebe zu Gott
besteht darin, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen, wie Luther das 1.
Gebot auslegt. Die Liebe zu Gott beschränkt sich nicht auf die theoretische Annahme einer
alles bestimmenden Wirklichkeit, sondern sie zeigt sich darin, auf diese alles bestimmende
Wirklichkeit täglich und mit der ganzen persönlichen Existenz zu vertrauen und in diesem
Vertrauen das eigene Leben zu leben. Dazu gehört auch das Gebet.
Was es bedeuten kann, die ganze eigene Existenz von Gott durchdringen zu lassen, zeigt
die jüdische Sitte der Gebetsriemen und der Mesusa. Wie Sie wissen, binden sich orthodoxe
Juden beim täglichen Gebet des Sch e ma Israel Riemen mit kleinen Gebetskapseln an den
linken Arm und die Stirn. Die Kapseln, die an der Stirn getragen wird, enthalten Texte aus
Exodus und Deuteronomium. Die Mesusa wird an Haustüren und Toren angebracht und
erinnert die, die ein- und ausgehen, an den Gott Israels als den wahren Besitzer und Wächter
von Haus und Stadt. So wird die Aufforderung am Ende unseres Textes ganz wörtlich
genommen.
Gewiss kann eine solche Praxis auch im Rituellen erstarren, ganz so, wie auch christliche
Riten und Gebräuche zur bloßen Konvention absinken können. Die jüdischen Gebetsriemen
sollen ihre Träger aber täglich aufs Neue daran erinnern, dass sie Gott mit ihrer ganzen
Existenz lieben und vertrauen dürfen und dass die Liebe zu Gott in der Liebe zum Nächsten
und im Halten der Gebote Gottes praktisch werden soll.
Dass auch wir Christen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen dürfen und
dass die Liebe zu Gott nur im Einklang mit der Liebe zum Nächsten bestehen kann, führt uns
sinnenfällig das Abendmahl vor Augen, das wir gleich feiern wollen. So möge es uns darin
stärken, gemeinsam mit Israel Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
unserer ganzen Kraft.

 

Deuteronomio 6

 4 Ascolta, Israele: il SIGNORE, il nostro Dio, è l’unico SIGNORE.
5 Tu amerai dunque il SIGNORE, il tuo Dio, con tutto il cuore, con tutta l’anima tua e con tutte le tue forze. 6 Questi comandamenti, che oggi ti do, ti staranno nel cuore; 7 li inculcherai ai tuoi figli, ne parlerai quando te ne starai seduto in casa tua, quando sarai per via, quando ti coricherai e quando ti alzerai. 8 Te li legherai alla mano come un segno, te li metterai sulla fronte in mezzo agli occhi 9 e li scriverai sugli stipiti della tua casa e sulle porte della tua città.

 

“God first“ è il titolo di un libro del teologo evangelico Ingolf U. Dalferth, pubblicato nel 2018 dopo il 500° anniversario della Riforma. Come dice il sottotitolo, tratta della “rivoluzione della Riforma riguardante il pensiero cristiano”. Di fatto, la Riforma non fu niente di meno di una “rivoluzione spirituale” (Dalferth), che recò con sé non solo rivolgimenti formidabili sul piano ecclesiale, sociale, politico e culturale, ma che fondò, soprattutto, una concezione di Dio radicalmente nuova. Questo, in Lutero, è proprio al centro della sua scoperta come riformatore.

“God first”: si può intendere anche come rifiuto degli idoli dei nostri giorni, che si tratti di “America first”, “Österreich first” o dell’assolutizzazione dei valori umani. Ciò cui attacchi il tuo cuore, dice Lutero, è il tuo Dio. E quindi esiste una varietà di dei vecchi e nuovi, la cui adorazione è in contrasto col primo comandamento e col nostro testo di oggi, lo Shemà Israel.

L’aspetto radicalmente nuovo, nella teologia di Lutero, non era una risposta migliore, precisa alla domanda che lo occupò in convento: “Come posso ottenere che Dio mi consideri con grazia?”. Invece, al Riformatore di Wittenberg riuscì di comprendere che questa domanda era mal posta e che conduceva necessariamente fuori strada, perché, nella sua lotta per ottenere il riconoscimento da parte di Dio, è una specie di autoreferenzialità peccaminosa, che fallisce alla croce di Cristo e viene da essa giudicata.

Secondo l’istruzione rabbinica, ogni ebreo deve recitare lo Shemà la mattina e la sera. Ogni giorno, questa preghiera ricorda l’unica consolazione d’Israele in vita e in morte. Narra una leggenda che il patriarca Giacobbe, nel giorno della sua morte, volle dire ai figli la meta delle vie di Dio. Ma, all’improvviso, ebbe paura che i figli potessero diventare infedeli al Dio d’Israele e la voce gli mancò. Allora essi esclamarono: “Ascolta, Israele…!” E Giacobbe, che si chiamava anche Israele, rispose con una benedizione.

Nel Piccolo Catechismo, Lutero ha riassunto il senso del primo comandamento, e quindi anche dello Shemà, in modo pregnante e fino ad oggi insuperato: “Dobbiamo temere, amare Dio e confidare in lui.” Da ciò Lutero era stato molto lontano, come scrive guardando agli anni trascorsi in convento. Nella prefazione al primo volume dell’edizione dei suoi scritti in latino, nel 1545, scrive: “Ma io, che pure vissi in modo irreprensibile da monaco, davanti a Dio mi sentivo, in quanto peccatore, con la coscienza molto inquieta e non potevo confidare di essere riconciliato mediante le mie opere di soddisfazione; non amavo Dio, anzi, odiavo il Dio giusto che punisce i peccatori e, in silenzio, m’indignavo contro Dio e se pure non bestemmiavo, mormoravo enormemente dentro di me e dicevo: come se non bastasse che i miseri peccatori, perduti per sempre a causa del peccato originale, oppressi da ogni genere di sventura e dalla legge dei dieci comandamenti, Dio deve aggiungere ora, col Vangelo, dolore a dolore e gravarci con la sua giustizia e ira! Così mi infuriavo, nella mia coscienza agitata e sconvolta.”

Solo quando gli si illuminò il significato vero delle parole di Paolo in Romani 1, 17, che il giusto vive per sola fede, come pure si ritrova nel profeta Abacuc, nell’Antico Testamento (Ab 2, 4), Lutero trovò pace e redenzione, cui aveva anelato tanto a lungo. Adesso, riconobbe Dio non come colui che ricerca la giustizia, ma come colui che rende giusto il peccatore mediante la fede.

In questo momento, disse Lutero, la Bibbia non solo gli si mostrò con un volto del tutto differente, ma così fu per Dio stesso. Riconobbe il volto del Padre misericordioso, i cui tratti appaiono nel sembiante del Cristo crocifisso. Per Lutero, fu come se fosse rapito e portato dritto in paradiso. Ma restò con i piedi a terra, certo che il Dio di grazia e creatore del mondo è presente in mezzo a questo mondo terreno.

Per quanto tutto ciò possa apparire bello, Lutero può risultarci lontano ed estraneo, con le sue domande esistenziali. Alcuni decenni fa, ancora si dibatteva se la questione dell’esistenza di Dio, in specie di fronte al male, alle guerre mondiali e alla Shoà, non fosse molto più radicale della questione relativa al Dio di grazie. L’ateismo di protesta del XX secolo non turba più le persone da molto tempo. In larghe parti d’Europa, si diffonde indifferenza verso la questione di Dio e anche verso ogni forma di religione; atteggiamento che è definito indifferentismo. Molti nostri contemporanei non si pongono più la questione di Dio. Non manca loro nulla, se manca Dio. Non hanno solo dimenticato Dio, ma hanno dimenticato ciò che, secondo la visione di chi continua a credere in Dio, hanno dimenticato. Questo, comunque, risulta dalla sesta indagine sui membri di chiesa, pubblicata due anni fa in Germania.

E quindi è comprensibile la richiesta di riportare la questione di Dio, in modo nuovo, al centro dell’attività di annuncio da parte della Chiesa. Essa è buona e giusta se, anche all’interno della Chiesa, si osserva la tendenza a moralizzare il Vangelo della libera grazia di Dio e a riconquistare con prediche di argomento morale il terreno perduto in pubblico. Ma forse le cose stanno in modo molto diverso. Forse, il compito non consiste nel cercare una forma, adeguata ai tempi, per la questione di Dio, “ma nello sperimentare a fondo la questione di Dio in modo da sperimentare la questione su Dio come impedimento all’apparire di Dio come Dio, cioè come Dio di grazia”, come scrisse già alcuni decenni fa il teologo zurighese Walter Mostert, morto precocemente. E forse, proprio in questo, Lutero è sorprendentemente attuale.

La possibilità, oggi, di parlare di Dio non dipende da alcuna domanda su Dio, di qualunque genere essa sia, ma dipende dalla traccia di memoria della rivelazione di Dio attestata nella Bibbia. La questione di Dio non precede la rivelazione, ma viene provocata, e radicalmente trasformata da essa, in maniera appropriata, poiché il soggetto umano della questione di Dio diventa oggetto della questione di Dio riguardo all’essere umano. La questione di Dio riguardo all’essere umano peccatore è la vera questione di Dio e la redenzione dell’essere umano è la risposta a tale questione.

Quando gli esseri umani, nella fede, riconoscono come sono riconosciuti da Dio, la questione di Dio trova la sua risposta sorprendente. D’un tratto, il soggetto che s’interroga su Dio si ritrova egli stesso messo in discussione. Ma non è che la domanda astratta su Dio sia sostituita da una non meno astratta domanda sulla natura dell’essere umano. La domanda di Dio non suona: “che cos’è l’essere umano?”, ma è: “Adamo, dove sei?” (Gen 3, 9).

Non è la cosiddetta questione di Dio, ma è il sapere ascoltare la condizione affinché Dio si riveli a noi. L’essere umano credente è tutto orecchi. “Ascolta, Israele!”: così comincia il nostro testo per la predicazione, lo Shemà. Dio prende la parola in modo irritante, che interrompe in modo salutare l’andamento del mondo e della vita, e che guida verso una direzione nuova, così come accadde a Mosè vicino al roveto ardente. O a Paolo, sulla via di Damasco, quando gli apparve il Cristo risorto e lo apostrofò dicendo: “Saulo, Saulo, perché mi perseguiti?”.

Secondo la tradizione neotestamentaria, Gesù ha citato lo Shemà Israele tutt’uno col comandamento dell’amore del prossimo, tratto da Levitico 19, 18. La richiesta di amare Dio e i consimili come se stessi è detta anche doppio comandamento dell’amore. Continua a sussistere l’errore testardo che il doppio comandamento dell’amore origini da Gesù e che, a differenza di quanto si suppone trovarsi nell’Antico Testamento ebraico, l’amore per Dio sia una scoperta cristiana, come pure l’amore sconfinato per i consimili, che, nell’Antico Testamento e nell’ebraismo, sarebbe riservato agli appartenenti al proprio popolo. Ma, secondo il racconto del Vangelo di Marco (Mc 12, 28-34) Gesù, in tale questione, è del tutto d’accordo con lo scriba che lo interroga su quale sia il comandamento più grande.

Nel Vangelo di Luca, lo scriba non si accontenta della risposta di Gesù e insiste: chi è il mio prossimo? Allora, Gesù narra la parabola del buon samaritano. Fa parte della storia della ricezione di Lc 10, 25-37 che molti cristiani siano convinti che soltanto l’amore per il prossimo e non anche l’amore per Dio definisca l’idea fondante della loro religione. Così, lo Shemà Israel non solo viene separato dall’ebraismo, ma viene anche completamente dissolto nell’ambito etico. E se si rinfaccia all’ebraismo lo stereotipo del legalismo, in verità è un cristianesimo moraleggiante a ridurre al fede nel Dio d’Israele a legge morale; invece, nel Deuteronomio lo Shemà è sì Torah, istruzione, ma, appunto, non è legge che opprime; è vangelo, messaggio di gioia e parola di consolazione, anche nei momenti oscuri della storia e della vita personale.

Nel Sohar, il libro più importante della Cabala ebraica, è scritto: “Se gli esseri umani, nella preghiera, annunciano, con amore e reverenza, l’unità del NOME, allora la tenebra che circonda la terra si squarcia e il volto del Padre Celeste sarà visibile e illuminerà l’universo.”

Ma che cosa vuol dire amare Dio? Anzitutto, significa corrispondere all’amore di questo Dio per noi esseri umani. La parola ebraica “ahab” intende differenti forme di amore. Il profeta Osea ha descritto la relazione di Jahwe con Israele ricorrendo all’immagine dell’amore tra marito e moglie. Nel Deuteronomio, c’è invece l’immagine dell’amore del padre per i figli. Dio ama Israele come se fosse suo figlio. Quindi parlare del padre e del suo amore per i figli non è assolutamente un’idea che origina nel Nuovo Testamento. Ma acquisisce una risonanza nuova per il fatto che è riferito a Gesù come Figlio di Dio. E quindi anche coloro che non appartengono per nascita a Israele diventano figli di Dio per mezzo della fede in Cristo.

La prima epistola di Giovanni chiarisce che non si può amare Dio se si odia il consimile o se non si ha amore per lui. Ma l’amore di Dio non si risolve nell’amore del prossimo, per quanto l’uno sia inscindibile dall’altro. L’amore per Dio consiste in questo: temere e amare Dio sopra ogni cosa e confidare in lui, come ha commentato Lutero il primo comandamento. L’amore per Dio non si limita all’accettazione teorica di una realtà che tutto determina, ma si dimostra nel confidare in tale realtà che tutto determina ogni giorno e con tutta la propria esistenza personale, vivendo la propria vita in questa fiducia. Di ciò fa parte anche la preghiera.

Che cosa significhi lasciare che Dio permei tutta la propria esistenza, lo mostra l’usanza ebraica dei filatteri e della mezza. Come saprete, gli ebrei ortodossi ogni giorno, durante la recita dello Shemà Israele, si legano dei lacci, con delle piccole capsule di preghiera, al braccio sinistro e sulla fronte. Le capsule sulla fronte contengono testi tratti dall’Esodo e dal Deuteronomio. La mezza viene fissata sulla porta di casa e sui portoni e ricorda, a chi entra e a chi esce, che il Dio d’Israele è il vero proprietario e custode della casa e della città. Così, la richiesta che si trova alla fine del nostro testo viene presa alla lettera.

Certo, una tale prasi può anche irrigidirsi nella ritualità, così come anche riti ed usi cristiani possono finire per essere mere convenzioni. I lacci di preghiera ebraici, però, devono ricordare di nuovo ogni giorno, a coloro che li portano, che devono amare Dio con tutta la loro esistenza e confidare in lui e che l’amore per Dio deve attuarsi nell’amore per il prossimo e nell’osservanza dei comandamenti di Dio.

Il fatto che anche noi crisitani dobbiamo temere e amare Dio sopra ogni cosa e confidare in lui e il fatto che l’amore per Dio possa esistere solo in armonia con l’amore per il prossimo, ci è reso visibile dalla Santa Cena che celebreremo adesso. Che possa rafforzarci ad amare, insieme con Israele, Dio con tutto il cuore, con tutta l’anima e con tutte le nostre forze.

Amen.

Reformationsfest – Prof. Dr. Ulrich H.J. Körtner