100 Jahre Christuskirche in Rom
Festgottesdienst am 26. Juni 2022
Predigt zu Römer 1, 8-12
Präses Dr. h. c. Annette Kurschus, Vorsitzende des Rates der EKD
I.
Wie soll ich Sie eigentlich anreden, verehrte hier Versammelte? Liebe Gemeinde? Das ist schön und vertraut, aber eigentlich zu „normal“ heute. Etwas Größeres, Gediegeneres, etwas Festlicheres muss her zu diesem besonderen Kirchengeburtstag mitten in Rom.
Biblisch will ich anfangen – „sola scriptura“! Wie denn anders in einer lutherischen Gemeinde? Ich beginne mit dem allerersten Gruß, der an die Gemeinde Jesu Christi in Rom überliefert ist:
An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Zuerst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, dass man von eurem Glauben in aller Welt spricht. Denn Gott ist mein Zeuge, dem ich in meinem Geist diene durch das Evangelium von seinem Sohn, dass ich ohne Unterlass euer gedenke und allezeit in meinem Gebet flehe, ob sich’s wohl einmal fügen möchte durch Gottes Willen, dass ich zu euch komme. Denn mich verlangt danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas mitteile an geistlicher Gabe, um euch zu stärken, das ist, dass ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben.
Tatsächlich habe ich in meinem Gebet gefleht, dass ich zu Ihnen komme: Mehr als 30 Stunden habe ich gebraucht, zusammen mit meinen beiden Gefährten aus dem EKD-Amt in Hannover.
Doch nicht nur deshalb leihe ich mir die Worte, die Paulus einst aufgeschrieben hat, heute allzu gern aus. Mich hat tatsächlich verlangt, Sie zu sehen, mit Ihnen zu feiern und dabei zu spüren, wie wir in aufgewühlten und bedrohten Zeiten gemeinsam getröstet werden durch den Glauben, den wir miteinander haben. Und es war ein Trost besonderer Art, wie fürsorglich wir gestern Abend nach turbulenter und hindernisreicher Reise hier empfangen wurden. Gott und Ihnen sei Dank.
Nun bin ich nicht Paulus. Für den bedeutete eine Reise ins Herz des Römischen Reichs eine buchstäblich tödliche Gefahr. Sein Besuch in Rom wurde bekanntlich ein Besuch, bei dem der Apostel ein Martyrium erlitt und den Tod fand. Über seinem mutmaßlichen Grab steht heute die großartige nach ihm benannte Basilika „Sankt Paul vor den Mauern“.
Im Vergleich zur Geschichte dieser Basilika oder auch gemessen an der Geschichte des Petersdoms, ist die 100-jährige Geschichte Ihrer Christuskirche eine überaus kurze. Oder auch nicht, denn wann fängt diese Geschichte an? Es gibt ja keinen absoluten Nullpunkt der Historie, den wir setzen und ab dem wir die Jahre zählen könnten. Dieses evangelische Gotteshaus steht im breiten Strom der zweitausendjährigen Geschichte der Christen in dieser Stadt, die die ewige genannt wird. Die hundert Jahre, die wir heute feiern, rechnen sich nach dem Einweihungsdatum der Christuskirche im Jahr 1922.
II.
Dieses Datum war nicht der Anfang, dieses Datum hatte selbst schon eine Geschichte. Und zwar eine, die es in sich hat.
Geplant wurde die Kirche, als in Deutschland und Italien noch Kaiser und König regierten, selbstbewusst und prächtig. Es waren die Zeiten von Pickelhaube und Zwirbelbart, strotzend selbstverständlich schienen Monarchie und Protestantismus. Einige träumten sogar von einer „Lutherkirche“ vor den Toren des Vatikans.
Eingeweiht wurde die Kirche nach dem Ersten Weltkrieg – von einer zahlenmäßig stark dezimierten deutschen Gemeinde, die verunsichert war und sich tastend neu orientierte.
Das evangelische Gotteshaus wurde denn auch nicht als Lutherkirche, es wurde als Christuskirche eingeweiht.
„Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“: Nicht von ungefähr war dies der Leitvers im feierlichen Gottesdienst am
- November 1922. Sehnsucht nach Beständigkeit: Wer könnte die in diesem Sommer 2022 nicht von Herzen nachvollziehen? Einer soll bleiben, wenn alle vergehen. Einer, der Worte hat, die auch dann noch gelten, wenn alle anderen Worte fraglich werden. Einer, der die Welt auch dann in Händen hält, wenn die vertraute Welt untergegangen ist. Einer, dessen Reich kommt, wenn die Reiche der Gewalt vergehen und mit ihnen die Herren, die sie beherrschen. Einer, der sagt: „Fürchte dich nicht“ und „Friede sei mit dir“.
III.
Dieser Sehnsucht nach Beständigkeit hat Ihre Christuskirche immer wieder ein bergendes Dach und eine tiefe Erfüllung gegeben. Sie war als Repräsentationsbau gedacht – und wurde ein Raum zum Schöpfen neuer Kräfte. Ungezählte Menschen hat sie in Todesängsten Geborgenheit geschenkt und Heimat gegeben.
Pfarrer Jonas hat mir dazu eine Geschichte erzählt: Im Herbst 2018 steht ein amerikanisches Ehepaar vor seiner Tür. Die Eheleute übergeben ihm eine alte Postkarte. Der Vater der Frau, Lawrence F. Fritz, hatte sie im Juni 1944 aus Rom in die USA geschickt. Die Postkarte zeigt ein Foto der Christuskirche als „Deutsche Evangelische Kirche in Rom“. Der junge Sergeant Lawrence F. Fritz berichtet seinen Eltern von einem lutherischen Abendmahlsgottesdienst für amerikanische Frontsoldaten. Er schreibt: „Die Christuskirche ist gesteckt voll gewesen mit Soldaten; kräftig und froh haben sie gesungen.“ Die Befreiung Roms von den nationalsozialistischen Besatzern am 4. Juni 1944 lag nur wenige Tage zurück. Der damalige Pfarrer an der Christuskirche, Erich Dahlgrün, war nach Abzug der deutschen Gemeindeglieder im Oktober 1943 in den Räumen der Gemeinde zurückgeblieben. Ob er den Amerikanern damals freiwillig die Kirche öffnete oder ob es eine Anordnung der Militärs war, wissen wir nicht. Was wir aber wissen: Diese Kirche hat für die amerikanischen Lutheraner jener Tage ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie ist eine Christus-Kirche geworden, wo Lawrence F. Fritz und seine Kameraden, die Sieger und zugleich Heimwehkranken und vom Krieg Gezeichneten, erhielten, was Paulus meint: geistliche Gabe, um sie zu stärken, um zusammen getröstet zu werden durch den Glauben, den sie miteinander haben. Wo sie also Christus begegnet sind.
„Es war ein wirklich gottgefälliger Gottesdienst, ein Gottesdienst voller Dank an den Herrn“, schreibt der junge Sergeant 1944 an die Eltern. Und seine Freude von damals wirkt weiter in seiner Tochter, die mit ihrem Ehemann 74 Jahre später in diese Kirche zurückkommt.
IV.
Wer die Kirche betritt und den Blick in die Höhe aufs Eingangsportal richtet, sieht Petrus und Paulus, zwischen ihnen Christus. Petrus und Paulus wurden beide hier in Rom gefoltert und hingerichtet für ihren Glauben an Christus. Zu Lebzeiten haben sie über ihren Glauben mächtig miteinander gestritten; es hat lange gedauert, bis sie sich gütlich einigen konnten – immer noch ein wenig grollend. Petrus und Paulus waren – gelinde gesagt – nicht gerade die besten Freunde. Ausgerechnet diese beiden Streithähne und Stadtpatrone Roms flankieren die große Christusstatue in der Mitte.
Auf der einen Seite also Petrus. Bis heute beruft sich die Römisch-katholische Kirche auf dessen kräftiges Bekenntnis zu Christus und auf die Zusage, die Christus ihm gibt: „Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue.“
Auf der anderen Seite Paulus. Bei ihm machte Martin Luther seine grundstürzende und befreiende Entdeckung: Gottes Gerechtigkeit richtet nicht, sondern sie richtet auf. Gott rechnet nicht Sünden an, sondern er rechnet Gnade zu.
Und zwischen beiden Christus.
Der Clou daran: So fern die beiden Apostel einander zeitweise waren, so sehr man sie als Konkurrenten, streckenweise gar als Gegner ansehen mag – keinem von beiden ist Christus näher. Sie kommen vielmehr von unterschiedlichen Seiten zu ihm, und so begegnen sie einander.
V.
Die Begegnung von Petrus und Paulus hat erneut Fleisch und Blut angenommen, als im Jahr 1983 Papst Johannes Paul II. die Christuskirche besuchte und hier predigte. Es war der welteit erste Besuch eines Papstes in einer evangelischen Kirche. Mittlerweile gibt es solch petrinisch-paulinische Begegnungen auch mit Benedikt XVI. und Franziskus. Der war am 15. November 2015 hier, und da gab es diese kleine, denkwürdige Begebenheit. Eine evangelische Christin fragte ihn, ob sie denn nicht endlich, nach 30 Ehejahren mit ihrem katholischen Mann, gemeinsam die Kommunion empfangen könnten. Franziskus antwortete ihr: „Eine Taufe, ein Herr, ein Glaube. Sprecht mit dem Herrn und geht weiter. Mehr wage ich nicht zu sagen.“
Damit hat Franziskus die Frage der Abendmahlsgemeinschaft in den weiten Horizont gestellt, in dem uns Christus miteinander verbindet. Was bedeutet es, dass wir gemeinsam an Christus glauben? Welche Konsequenzen hat das, und zwar in jeder Hinsicht? Lasst uns mit Christus sprechen. Auch Mutiges sollten wir ihm sagen. Auch Großes sollten wir ihn fragen.
Ich verstehe Franziskus so, dass wir weiter reden sollen, dass wir weiter gehen müssen, wo er als Papst nicht mehr wagen kann.
Dass „ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben“: Darum geht´s. Um diese zutiefst ökumenische Frage kommt man hier in Rom überhaupt nicht herum. Für die Gemeinde der Christuskirche ist diese Frage eine Herzensangelegenheit, sie stellt sich sehr praktisch im Alltag. Denn so viele von ihnen sind mit einem katholischen Ehepartner, einer katholischen Ehepartnerin verheiratet, haben katholische Freunde und Kollegen, und die wissen oft wenig übers Evangelisch-Sein. Da muss man miteinander reden, da muss man mutig ausprobieren, was geht.
VI.
Von dem, was 1517 mit Martin Luthers Thesenanschlag begonnen hat, kann man auf sehr unterschiedliche Weise erzählen.
Wir Evangelischen erzählen es gern als eine Geschichte der Wiederentdeckung des Evangeliums, als eine Geschichte der Freiheit und des kirchlichen Aufbruchs. Die katholischen Geschwister – und dafür bin ich dankbar! – haben uns ausdrücklich im Vorfeld des Jubiläumsjahrs 2017 daran erinnert, wie die Geschichte der Reformation auch mit einer ganz anderen Tönung und Tonalität erzählt werden kann. Als Verlustgeschichte, als Geschichte von Rechthaben und Streit, von Spaltung und Abspaltung.
Jahrhunderte hat es gedauert, bis evangelische und katholische Chritinnen und Christen behutsam und ganz allmählich beginnen konnten, die Geschichte der Reformation als gemeinsame Geschichte zu erzählen. Dazu gehörte die Entdeckung: Das, was uns geschenkt wurde, ist nicht zu haben ohne Verluste und Verletzungen. Umgekehrt können die Verluste und Verletzungen, die wir voneinander erlitten und einander zugefügt haben, zum verheißungsvollen Keim werden für gemeinsame neue Wege. Ich erinnere an den eindrucksvollen Gottesdienst zur „Healing of Memories“ in Hildesheim, an dessen Ende wir ehrlichen Herzens wagen konnten, vom Segen der Reformation zu sprechen. Und zwar von einem Segen, der uns beiden zuteil wurde.
VII.
Die Szene über dem Eingangsportal dieser Kirche stellt uns eine tiefe Wahrheit vor Augen: Keiner von uns halte sich selbst für die Mitte! Die Mitte ist Christus. Paulus und Petrus stehen beide an seiner Seite. Und wenn sie einander so betrachten in ihrer jeweiligen Nähe zu Christus, dann ahnen sie hoffentlich: Wie stark könnten wir sein, wenn wir mit gegenseitiger Achtung die Stärken des anderen stärkten und voneinander und miteinander zu lernen versuchten?
Wie stark könnten und müssten wir beide miteinander sein für die leidende Welt? Was bedeuten gläubige Menschen, die Christus in ihre Mitte nehmen, für eine säkulare Gesellschaft? Was können sie bewirken in den gebeutelten Gesellschaften Europas, wo Spaltung und Polarisierung immer mehr zunehmen, die sich aufreiben und zersplittern zwischen Verschwörungsphantasien und Kriegslust und Hassbotschaften und den Kompromiss verachten? Wie segensreich sind sie für jene, die gar nicht mehr zu dieser Gesellschaft gehören und von ihr ausgepien werden? Die Welt braucht Frauen und Männer, die gegen alle Hoffnungslosigkeit an das Evangelium eines Liebenden glauben, der gestern und heute und in Ewigkeit derselbe ist!
VIII.
Zurück zu Paulus. Nicht alle Gemeinden begrüßt er so gediegen und formvollendet. Der kluge jüdische Gelehrte Jakob Taubes vermerkt: „Dies ist der einzige Brief des Paulus an eine Gemeinde, die er nicht gegründet hat. Und: Er hätte es sich sehr verbeten, wenn andere Apostel in seine Gemeinden hineingepfuscht hätten mit einem Brief. … Deshalb zieht er sich also Frack und Weste an wie ein feiner Pinkel und schreibt ungeheuer diplomatisch. Denn er geht auf Glatteis. … Er hatte Sinn dafür, wo die Macht zu finden ist und wo eine Gegenmacht zu etablieren ist.“
Vieles, beinahe alles ist heute anders als in jenen Anfängen der christlichen Gemeinde in Rom. Mein feiner Frack und und die würdigen Westen meiner Gefährten stecken in den verlustig gegangenen Koffern, die hoffentlich irgendwann wieder auftauchen. Ich gehe nicht auf Glatteis, obwohl ich bei der Hitze hier fast was drum geben würde. Aber eines ist doch gestern und heute dasselbe: Sie, liebe Gemeinde, gehören zu den Geliebten Gottes, zu den berufenen Heiligen in Rom. Mich hat verlangt danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas mitteile an geistlicher Gabe, um euch zu stärken, das ist, dass ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben. Und wir vertrauen gemeinsam auf eine Gegenmacht zu Angst und Gewalt: auf die Macht des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
Amen.