Apostelgeschichte 16,9-15
Der Predigttext für den heutigen Sonntag, liebe Gemeinde, steht in der Apostelgeschichte. Dieses Buch des Neuen Testaments erzählt davon, wie nach der Himmelfahrt Jesu die erste Gemeinde in Jerusalem entstanden ist und sich die christliche Botschaft von dort aus verbreitet hat. Die Apostelgeschichte erzählt erstaunliche Geschichten davon, wie sich Menschen zum christlichen Glauben bekehren, von denen man es nicht erwarten würde: ein römischer Statthalter, ein Gefängnisaufseher, sogar ein hoher Beamter aus Äthiopien, der nach Jerusalem gekommen war, um dort den jüdischen Gott anzubeten. Sie und viele andere lassen sich davon überzeugen, was ihnen die ersten Zeugen des Glaubens berichten.
Das Christentum, so können wir diesen Erzählungen entnehmen, lebt davon, dass Menschen ihr Herz für Gott und Jesus Christus öffnen. Dass der Glaube zur Grundlage ihres Lebens wird, ihnen Kraft und Zuversicht schenkt. Menschen, die, wie es der Wochenspruch sagt, ihr Herz nicht verschließen, wenn sie die Stimme Gottes hören. Die christliche Kirche, unsere eigene Gemeinde, lebt davon, dass Menschen für den Glauben gewonnen werden. Und der Glaube braucht Menschen, er braucht uns, die Zeugnis geben von der befreienden, froh machenden Botschaft des Evangeliums.
Die Apostelgeschichte erzählt von Aufbrüchen, von neuen Anfängen. Sie erzählt von Menschen, deren Leben durch die Hinwendung zum Glauben einen neuen Sinn bekommt. Und sie erzählt davon, dass sich die Zeugen der christlichen Botschaft auch von Rückschlägen und Widerständen nicht beirren lassen. Diese Erzählungen geben Hoffnung und neuen Mut, gerade auch in schwierigen Zeiten. Wenn wir uns sorgen um den Frieden in der Welt, um eine stabile Ordnung, um Gerechtigkeit für die, die unter Gewalt leiden; aber auch darum, dass die Kirchen leerer werden und der Glaube vielen Menschen nicht mehr die Orientierung für ihr Leben gibt, dann können wir aus der Apostelgeschichte die Botschaft hören: Lasst euch nicht entmutigen, seid zuversichtlich und voller Freude, legt davon Zeugnis ab, dass der christliche Glaube das Leben reicht macht, es erfüllt, es hell und heil werden lässt.
In der Ausbreitung des Zeugnisses von Jesus Christus, die die Apostelgeschichte erzählt, spielt Paulus eine wichtige Rolle. So ist es auch in unserem Predigttext. Paulus ist unermüdlich auf Reisen, er bringt die christliche Botschaft nach Griechenland und Kleinasien. Er gründet Gemeinden an vielen Orten, an die er dann seine Briefe schreibt. Am Ende seines Wirkens kommt Paulus auch nach Rom. Die Tradition über sein Wirken hier in Rom gründet darum ganz wesentlich auf der Apostelgeschichte. Der Tod des Paulus wird in der Apostelgeschichte zwar nicht erzählt. Er soll sich ja, wie auch derjenige des Petrus, der christlichen Überlieferung zufolge hier in Rom ereignet haben. Darum gibt es das Grab des Paulus unter dem Altar der Kirche San Paolo fuori le mura. Dass und warum Paulus aber überhaupt nach Rom gekommen ist, erfahren wir aus der Apostelgeschichte.
Im heutigen Predigttext geht es aber nicht um Paulus in Rom, sondern um eine frühere Episode aus seinem Wirken. Paulus ist mit seinen Begleitern Silas und Timotheus im Gebiet von Troas, der Gegend, in der das berühmte Troja liegt. Dort ereignet sich dasjenige Geschehen, von dem unser Predigttext erzählt. Es heißt dort:
Und Paulus hatte bei Nacht eine Erscheinung: Ein makedonischer Mann stand da und bat ihn: „Komm herüber nach Makedonien und hilf uns.“ Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, suchten wir sofort nach Makedonien abzureisen, da wir daraus erschlossen, dass Gott uns herbeigerufen hatte, um ihnen die frohe Botschaft zu verkündigen. Als wir von Troas aus in See stachen, fuhren wir auf direktem Weg nach Samothrake, am folgenden Tag nach Neapolis und von dort nach Philippi. Das ist eine führende Stadt von Makedonien, eine Kolonie. In dieser Stadt hielten wir uns einige Tage auf. Am Sabbat gingen wir zum Stadttor hinaus an den Fluss, wo wir eine Gebetsstätte vermuteten; und wir setzten uns und sprachen zu den Frauen, die dort zusammenkamen. Auch eine Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus Thyatira, eine Gottesfürchtige, hörte zu. Deren Herz öffnete der Herr, so dass sie sich auf das von Paulus Gesagte einließ. Nachdem sie getauft worden war und ihr Haushalt, bat sie: „Wenn ihr urteilt, dass ich zum Glauben an den Herrn gekommen bin, kommt in mein Haus und bleibt!“ Und sie drängte uns.
Dieser Text, liebe Gemeinde, ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er ist zunächst darum bemerkenswert, weil Paulus sich gerufen weiß, von Troas nach Makedonien aufzubrechen, ein Gebiet im Norden Griechenlands. Ihm wird in einer nächtlichen Erscheinung mitgeteilt, wohin sein Weg von dort, wo er sich gerade aufhält, führen soll. Es gibt keinen Zweifel, die Botschaft ist völlig eindeutig: Der Mann aus Makedonien, den Paulus in einer nächtlichen Erscheinung sieht, übermittelt ihm einen Auftrag Gottes. Darum machen sich Paulus und seine Begleiter am Morgen nach dieser Erscheinung sofort auf den Weg. Eine klare Sache, geradezu beneidenswert eindeutig.
Manchmal zeigt Gott uns den Weg, den wir gehen sollen, auf solch unzweifelhafte Weise. So war es in diesem Fall. Paulus war sich seiner Sache sicher, ihm stand genau vor Augen, wohin seine Reise führen musste. Das ist nicht immer so. Manchmal stehen wir vor schwierigen Entscheidungen, die so gar nicht eindeutig sind und uns Kopfzerbrechen und Bauchschmerzen bereiten. Dann wünschen wir uns, dass die Dinge so klar wären, wie in dieser Erzählung. Dass Gott uns zeigen würde, welche Entscheidung die richtige ist. Wie soll ich mich in einem Konflikt verhalten, der mich und andere belastet? Wohin wird mein Leben steuern, wenn ich den Wohnort oder den Beruf wechsle oder mich nach dem Studium entscheiden muss, wie es weitergehen soll? Wie gehe ich um mit Verlusten – von geliebten Menschen, von Freundschaften, von einer vertrauten Umgebung, die mir Sicherheit gegeben hat? Und natürlich heute: Welche Partei soll ich wählen? Viele von uns hier haben schon gewählt. Die meisten Deutschen aber stehen heute vor der gar nicht einfachen Entscheidung, wen sie wählen sollen.
Nicht immer ist eine Antwort bei anstehenden Entscheidungen so klar, wie bei der nächtlichen Erscheinung vor Paulus. Er war sich sicher, dass Gott ihn beauftragt hatte, das Evangelium dort zu verkünden, wohin der Mann im Traum ihn gebeten hatte. Diese Gewissheit, dass der nächste Schritt genau so und nicht anders sein soll, wünschen wir uns auch in Situationen, in denen es viel weniger eindeutig ist, die richtige Entscheidung zu treffen. Der Beginn des Predigttextes weist uns deshalb darauf hin, dass es wichtig ist, genau darauf zu hören, wohin Gott unsere Schritte lenken will. Das Herz nicht zu verschließen, wenn wir Gottes Stimme hören, wie es im Wochenspruch heißt. Paulus hat das getan, als der Mann aus Makedonien ihm im Traum erschienen war. Auf Gottes Stimme hören, die uns sagt, wohin wir unseren Lebensweg lenken, welche Entscheidung wir treffen sollen, das ist ein guter und hilfreicher Rat, den wir dem Predigttext entnehmen können. In Ruhe darauf hören, wann und in welcher Weise Gott zu uns spricht, welche Hinweise und Hilfen er für die nächsten Schritte unseres Weges bereithält, das ist segensreich für unser Leben.
Die Reise, die Paulus und seine Begleiter am nächsten Tag antreten, führt sie geradewegs in die römische Kolonie Philippi. Die Stadt wird in der Apostelgeschichte detailliert beschrieben, und damit wird deutlich: Paulus, der, ebenso wie seine Begleiter, Jude war, kommt in eine ihm fremde Stadt. In der römischen Kolonie Philippi wohnten Römer, auch einheimische Makedonier und einige Menschen anderer Herkunft. Der jüdische Glaube, der für Paulus in der Regel der Anknüpfungspunkt war, wenn er in eine ihm fremde Stadt kam, spielte dagegen in Philippi keine große Rolle. Paulus betritt mit seiner Botschaft von Gott und Jesus Christus also Neuland. Der Text erzählt davon, dass es nur eine jüdische Gebetsstätte gab, draußen am Stadttor, unter freiem Himmel, nicht einmal eine Synagoge also, in die er hätte gehen können. Paulus und seine Begleiter gehen zu dieser Gebetstätte, weil sie damit rechnen können, dort auf Menschen zu treffen, die bereit sind, ihnen zuzuhören. Menschen, die ihre Herzen öffnen und nicht verschließen. Und Paulus trifft auf Frauen, die dort zusammengekommen waren. Offenbar gab es also keine jüdische Gemeinde, zu der ja mindestens zehn Männer gehören müssen. Davon aber ist hier keine Rede. Nur die jüdischen Frauen versammeln sich draußen vor der Stadt, um zu Gott zu beten.
In den Blick tritt dabei eine ganz besondere Frau. Lydia heißt sie. Sie stammt aus der Stadt Thyatira im antiken Lydien, einem Gebiet im Inneren Kleinasiens, also der heutigen Türkei. Sie ist offenbar wohlhabend, darauf weist ihr Beruf als Purpurhändlerin hin. Vermutlich war sie eine in Philippi bekannte und einflussreiche Frau, das scheint ihr Beruf nahezulegen und auch, dass sie eine wichtige Rolle in der Geschichte spielt, sogar ein eigenes Haus besitzt sie.
Diese Lydia, die Purpurhändlerin aus Philippi, ist eine bemerkenswerte Frau. Eine „Gottesfürchtige“ wird sie genannt. Das meint: Sie ist keine Jüdin, aber sie nimmt trotzdem an der Gebetsversammlung der jüdischen Frauen teil. Sie ist auf der Suche danach, was ihr Leben erfüllen kann, ihm eine Orientierung gibt in den Fragen, die sie umtreiben. Der Gott, zu dem sich die jüdischen Frauen beten, zieht auch sie an. Und sie lässt sich sogar ein auf die Verkündigung der fremden Missionare. Sie lässt sich taufen und lädt die Fremden ein in ihr Haus. So wird sie zur Gastgeberin der christlichen Missionare. Später versammelt sich in ihrem Haus sogar die christliche Gemeinde. Lydia war also eine ganz entscheidende Person in der Geschichte der Entstehung der christlichen Gemeinde von Philippi. In der Apostelgeschichte wird das genau erzählt, weitere Zeugnisse über sie gibt es nicht. Lydia gehört zu den Menschen, durch die der christliche Glaube an einem neuen Ort Fuß fassen konnte. Sie ist sogar die erste Zeugin für die christliche Botschaft auf europäischem Boden.
Lydia hat sich von der Verkündigung des Paulus mitreißen lassen. Gott hat ihr Herz für die christliche Botschaft geöffnet, so heißt es im Predigttext. Dazu gehört aber auch: Lydia verschließt sich dem Wort Gottes nicht. Sie lässt sich ein auf den neuen Weg, sie vertraut darauf, dass der Glaube, den Paulus verkündet, ihr Leben neu werden lässt. Sie tut, wozu der Wochenspruch aus dem Hebräerbrief aufruft: Verschließt euer Herz nicht, wenn ihr Gottes Stimme hört.
Lydia, die erste Christin Philippis und Europas, wird auch zur ersten Gastgeberin des Paulus und seiner Begleiter. Sie öffnet ihr Haus für die Männer aus der Fremde. Das ist ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass die jüdischen Männer in das Haus einer nichtjüdischen Frau gehen. Das Evangelium, so macht es diese Geschichte deutlich, überwindet Grenzen, und zwar schnell und auf spektakuläre Weise. Was zuvor getrennt war – Juden und Nichtjuden, Männer und Frauen, Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten –, kommt in der Gemeinschaft der Glaubenden zusammen. Das war in der Antike sehr ungewöhnlich, denn diese Bereiche waren eigentlich streng voneinander getrennt. Juden lebten mit Nichtjuden nicht zusammen, Männer und Frauen hatten ihre klaren gesellschaftlichen Rollen, ebenso wie Freie und Sklaven. Der christliche Glaube hat dagegen Gemeinschaften geschaffen, die für alle diese Menschen offen waren. Das war schon damals ungewöhnlich und es hat der Kirche später immer wieder Schwierigkeiten bereitet. Wir kennen es vielleicht am besten aus den vielen Diskussionen darüber, welche Ämter und Funktionen Frauen in der Kirche übernehmen dürfen. In der römisch-katholischen Kirche wird das gerade wieder intensiv diskutiert. Die Generalversammlung der Bischofssynode, die im vergangenen Jahr ihre Sitzung im Oktober hier in Rom abgehalten hat, macht es deutlich. Das Abschlussdokument dieser Versammlung hält fest: „Es gibt keine Gründe, die Frauen daran hindern sollten, Führungsrollen in der Kirche zu übernehmen: Was vom Heiligen Geist kommt, kann nicht aufgehalten werden.“ Dass die Umsetzung dahinter noch immer zurückbleibt, ist deutlich. Aber auch in der evangelischen Kirche war es ein langer Prozess, bis Frauen in gleicher Weise wie Männer leitende Funktionen übernehmen konnten. Wir sind alle dazu aufgerufen, auch das können wir dem Predigttext entnehmen, die im Evangelium begründete Überwindung der Grenzen konkret und sichtbar werden zu lassen.
Lydia ist dafür eine wichtige Zeugin. Sie gehört zu den Frauen, die am Beginn des Christentums eine zentrale Rolle gespielt haben. Häufig werden solche Frauen im Neuen Testament genannt: als Begleiterinnen Jesu, als Apostelin oder als Frauen, die Verantwortung in den Gemeinden tragen. Frauen waren von allem Anfang an unverzichtbar für die christlichen Gemeinden. Unsere Gemeinde, die evangelisch-lutherische Gemeinde hier in Rom, ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Wir brauchen nur auf die vielen Funktionen, die große Unterstützung, den unermüdlichen Einsatz zu schauen, den Frauen hier in der Gemeinde leisten. Die Geschichte der Lydia, von der unser Predigttext erzählt, ist darum nicht zuletzt ein willkommener Anlass, daran zu erinnern und dafür zu danken.
Lydia war eine der ersten Frauen, die aus den frühchristlichen Gemeinden bekannt sind. Mit ihrer Öffnung für die Botschaft des Evangeliums, mit der Öffnung ihres Hauses für Paulus und seine Begleiter, ist sie darüber hinaus zu einem Vorbild dafür geworden, wie Menschen zum christlichen Glauben kommen. Das macht sie auch heute zu einer wichtigen Zeugin für die Entstehung des Christentums. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.