Josua 24,14-16

 

Beim Kirchweihfest, liebe Gemeinde, sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob wir ein Gebäude feiern. Beim Kirchweihfest, das wir heute feiern, sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob wir dem Gebäude hier gratulieren, in dem wir gerade Gottesdienst feiern. Hat sich gut gehalten, die Christuskirche in den hundertzwei Jahren. Das Gold der Mosaiken strahlt, der Marmor leuchtet, die Orgel klingt mächtig. Herzlichen Glückwunsch. Keine Anzeichen von Altersproblemen, Glocken läuten, ad multos annos.

 

Wenn ich so beginne, liebe Festgemeinde, ist natürlich eigentlich schon allen klar: Das Jubiläum dieses Gebäudes ist nur der Anlass. Der Gottesdienst zur Einweihung dieser Christuskirche vor einhundertzwei Jahren ist aber nicht der Grund unserer Feier. Wir feiern doch recht eigentlich die Gemeinde, die dieses Gebäude erbaut hat, dekoriert hat, gehegt und gepflegt hat, in Ehren hält, Sonntag um Sonntag nutzt und an vielen Tagen der Woche dazu. Wir feiern die Gemeinde, die in diesem Gebäude Gottesdienst hält seit über hundert Jahren, und mit der Gemeinde feiern wir ihr Gebäude. Mit der Gemeinde, die sich heute hier versammelt, feiern wir die zähe Beharrlichkeit derer, die 1922 mitten in einer schweren Wirtschaftskrise diese Kirche fertigstellten und einweihten, nachdem die seit 1823 genutzte Kapelle im Palazzo Caffarelli, der deutschen Botschaft auf dem Kapitol, mit dem ganzen Palazzo beschlagnahmt und schließlich enteignet wurde – ein kluger deutsch-römischer Kunsthistoriker hat diese Vertreibung mit dem Sturz vom tarpejischen Felsen parallelisiert. Genau so wird die Gemeinde das vermutlich auch empfunden haben und entsprechend dankbar war sie in einer Zeit doppelter Depression für die prächtige Christuskirche hier in der Via Toscana, für Gold und Marmor, für Orgel und Glocken. Neuer Anfang nach dem jähen Sturz vom Kapitol, neuer Glanz nach der Schmach einer Niederlage im großen Krieg, ein stolzes Gebäude nach viel Demütigung in Stadt und Land. Neuorientierung einer ganzen Gemeinde mit der Hilfe eines Gebäudes. Daran erinnern wir uns heute, dankbar und auch ein wenig stolz. Denn nach der großen Katastrophe von 1918 kam eine viel größere Katastrophe im letzten Jahrhundert und besonders sicher, ruhig und wirklich friedlich sind die Zeiten gerade auch nicht. Ein Haus kann bergen in schwieriger Zeit, ein Haus kann Kraft geben in unsicheren Verhältnissen.

 

Wir feiern aber – wie gesagt – mit dem Gebäude zuerst diese Gemeinde, liebe Festgemeinde, und deswegen passt es gut, dass auch in unserem Predigttext das Gebäude nur im übertragenen Sinne vorkommt. Von einem Gebäude aus Stein, mit Marmor und Mosaik gar, ist im Predigttext für den heutigen Sonntag nämlich gar nicht die Rede. Beschrieben ist vielmehr eine Versammlung auf freiem Felde, auf einer Wiese, so frei und unbebaut, wie über zwanzig Jahre der Bauplatz dieser Kirche lag, ein schmales Grundstück an der Via Toscana, unweit der Via Veneto und der Aurelianischen Mauer gelegen, 1899 von der Gemeinde erworben, ein bis dato noch unbebauter Teil der Ludovisischen Gärten. Beschrieben ist eine Versammlung der Stämme Israels, auf der sich ganz Israel unter Leitung seines Anführers Josua in Sichem versammelt, unterhalb von Ebal und Garizim, vor den Toren der heutigen Stadt Nablus in der Westbank. In unserer Lutherbibel trägt diese Versammlung den wunderschönen Titel „der Landtag zu Sichem“ und ich stelle mir da immer eine Schweizer Landgemeinde vor, alle Männer und Frauen und Kinder auf der Wiese, nach Familien und Stämmen geordnet und Josua in der Mitte. Unserem Predigttext geht, wie sich das so für Landtage gehört, eine längere Rede voraus, in der die Geschichte des Volkes Israel von Abraham an über die Erzväter Isaak, Jakob und Esau rekapituliert wird. Josua rekapituliert in seiner großen Landtagsrede, wie das Volk Israel nach Ägypten gekommen ist, unter Mose durch das Rote Meer in die Wüste zog und von dort über den Jordan ins gelobte Land. From the Sea, from the Red Sea, to the river, to the river Jordan – die Wenigsten, die heute entsprechende Parolen grölen, wissen, liebe Gemeinde, worum es eigentlich wirklich im Nahen Osten geht und können die Geschichte des Volkes Israel von Abraham auf Josua so knapp und präzise rekapitulieren wie Josua in der Landtagsrede von Sichem und so, wie es vermutlich einige unter uns noch im Religions- oder Konfirmandenunterricht gelernt haben.

 

Der geraffte Geschichtsrückblick auf der großen Landtagsrede Josuas in Sichem kulminiert in einem, wie ich finde, liebe Gemeinde, großartigen, geradezu evangelischen Satz, mit dem unser Predigttext eigentlich beginnen müsste – aber der setzt leider erst einen Vers später ein, warum auch immer die zuständige Kommission vor einigen Jahren so entschieden hat. Der großartige Satz Josuas, der in unserem Predigttext fehlt, aber eigentlich dazugehört, ist ein Satz, den Gott selbst zu seinem Volk spricht und mit dem er die ganze Geschichte des Auszugs aus Ägypten und des Einzugs ins gelobte Land zusammenfasst. Gott spricht durch den Mund Josuas: „Und ich habe euch (den Israeliten) ein Land gegeben, um das du dich nicht gemüht hast, und Städte, die ihr nicht gebaut habt, um darin zu wohnen, und ihr esst von Weinbergen und Ölbäumen, die ihr nicht gepflanzt habt“. Ein geradezu evangelischer Satz, ein Satz, den auch Jesus hätte sagen können, aber auch Luther, Calvin, Bonhoeffer – denn das ist doch Gnade, liebe Gemeinde, lauter Gnade, dass wir in einem Land leben können, das wir nicht aufgebaut haben, dass wir in Wohnungen wohnen, die wir nicht mit eigener Hände Arbeit gemauert haben, und von Weinbergen und Ölbäumen essen, die wir nicht gebaut haben, von Feldern und aus Fischfängen essen, die wir nicht beackert haben, nein schlimmer, in die wir unseren Müll hineinwerfen und trotzdem schwimmen noch munter die Fische drin und wir essen. 1922 wurde hier eine Kirche eingeweiht, weil dieses Gebäude im Unterschied zum Palazzo Caffarelli zurückgegeben wurde, auch das lauter Gnade, ganz unverdientes Geschenk nach einer bitteren Niederlage. Dieses Kirchengebäude steht symbolisch für die viele Gnade, die wir im Leben empfangen, ganz unverdient, ganz ohne Arbeit, ganz ohne unser Zutun, lauter Geschenk, lauter Gnade.

 

Unser Predigttext, auf den ich nun endlich zu sprechen komme, liebe Gemeinde, formuliert eine Frage an uns – die Frage, wie wir auf die großen Geschenke aus lauter Gnaden reagieren wollen. Dankbar oder gleichgültig? Mit tief empfundener Freude oder so, als eher mufflig darüber, dass wir das alles nicht selbst geschafft haben? Wer etwas geschenkt bekommen hat, muss sich entscheiden, kann sich entscheiden, sollte sich entscheiden: Wie reagieren, wenn die große, bunt eingewickelte Kiste mit roter Schleife unverdient vor der Tür steht? Ich lese aus dem alttestamentlichen Buch Josua, aus der Rede Josuas auf dem Landtag zu Sichem, im vierundzwanzigsten Kapitel, die Verse 14-16:

 

Josua sprach zu dem Volk:

Fürchtet den Herrn und dient ihm treulich und rechtschaffen und lasst fahren die Götter, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms und in Ägypten, und dient dem Herrn. Gefällt es euch aber nicht, dem Herrn zu dienen, so wählt euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen. Da antwortete das Volk und sprach: Das sei ferne von uns, dass wir den Herrn verlassen und andern Göttern dienen! ¶

 

Wir wissen das alle aus Kindertagen, liebe Gemeinde, wir kennen das alle aus unserem eigenen Leben: Für Geschenke, ja selbst für große, unverdiente Geschenke kann man dankbar sein – oder eben auch zutiefst undankbar. Die muffligen, undankbaren Menschen (und wir kennen sie alle) bringen kein freundliches „Dankeschön“ über die Lippen, schreiben keinen liebenswürdigen handschriftlichen Bedanke-Mich-Brief, revanchieren sich nicht mit einer Gefälligkeit und lassen die, die ihnen etwas geschenkt haben, einfach links liegen. In unserem Predigttext aus der großen Landtagsrede Josuas in Sichem geht es nun aber nicht um die kleine Undankbarkeit, das vergessene „Dankeschön“ nach einem besonders einfallsreichen Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk. Nein, liebe Gemeinde, in unserem Predigttext geht es um die schlimmste Undankbarkeit, die man sich als Mensch zuschulden kommen lassen kann. Es geht um die Undankbarkeit gegenüber Gott. Es geht darum, dass Menschen ihren Schöpfer einfach vergessen können, verlernen, ihm zu danken für alle die unverdienten guten Gaben, die wir jeden Morgen neu und einen ganzen Tag lang empfangen: Leben, Gesundheit, Nahrung, Schlaf, Erholung, Urlaub in Rom – „dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Herren!“ heißt es in einem der bekanntesten Lieder von Paul Gerhardt, die uns ins Danken bringen wollen, damit wir das Danken für Gottes Gnadengeschenke nicht vergessen und dann den lieben Gott gleich mit dazu.

 

Gottesvergessenheit, liebe Gemeinde, fällt in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich aus. Aus unserem Predigttext und aus anderen Passagen des Alten Testaments wissen wir, dass man den lebendigen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Gott, der sich auf dem Sinai offenbarte, vergessen kann und zu den vielen anderen Göttern der antiken Welt überlaufen kann. Zu den „Göttern, denen eure Väter gedient haben jenseits des Stroms, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt“, heißt es in der Landtagsrede des Josua, in unserem Predigttext. Die Bibel berichtet aber auch, dass Menschen vom lebendigen Gott zu Baal abfallen, zu Aschera, zum olympischen Zeus, dem Göttervater der Griechen. Wenn ich recht sehe, liebe Gemeinde, ist das heute nur bei wenigen die Gefahr. Ich jedenfalls kenne keine Baals-Anbeter und Aschera-Verehrerinnen, dem Zeus opfert, soweit ich sehe, weder in Rom noch in Berlin irgendeiner einen Stier. Martin Luther hat uns aber in seiner Erklärung des ersten der Zehn Gebote im Großen Katechismus von 1529 daran erinnert, dass es gar keine Götter-Figuren sein müssen, von den wir aus lauter Gottesvergessenheit abhängig werden können. Luther schreibt: „Worauf du nun, sage ich, dein Herz hängst und verlässt, das ist eigentlich dein Gott“. Aus lauter Undankbarkeit für Gottes Gnadengeschenke kann man Gott vergessen und in die Abhängigkeit von Götzen geraten: Ruhm und Geld, Macht und Sicherheit, Schönheit und Glanz – der Abgötter, liebe Gemeinde, sind unendlich viele und diese Abgötter halten alle nicht, was sie zu versprechen scheinen. Die nächste Finanzkrise kommt bestimmt, alle Schönheit und aller Glanz verwelken, Macht und Sicherheit zerbröseln in den Kriegen und Krisen unserer Zeit.

 

Josua will uns, liebe Gemeinde mit seiner Landtagsrede dazu auffordern, sich aus lauter Dankbarkeit für den wahren Gott zu entscheiden und nicht aus Gottesvergessenheit einem der vielen Götzen und Halbgötter unserer Tage anzuhängen. Und seine Rede hat durchschlagenden Erfolg. Josua schließt: „Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen“. Und da repliziert wie aus einem Munde das Volk, das zuhört: „Das sei ferne von uns, dass wir den Herrn verlassen und andern Göttern dienen!“. Ein Kirchweihfest, liebe Gemeinde, ist Gelegenheit, sich an solche Selbstverpflichtungen zu erinnern. Ich, jeder einzelne, jede einzelne, aber auch wir alle wollen dem Herrn dienen und nicht irgendwelchen anderen Götzen dieser Welt. Ich aber, wir aber und dieses ganze Haus. Hier in dieser Kirche soll weiter, wie seit hundertundzwei Jahren, gegen die Gottesvergessenheit angesungen, angebetet und angepredigt werden, fröhlich und dankbar unserem Gott gesungen und musiziert werden. Für seine Gnadengaben und Geschenke gedankt mit Herzen, Mund und Sinnen. Eine Insel der Dankbarkeit in einer Welt voller Undankbarkeit. Eine Insel, auf der an Gott erinnert wird in Zeiten krasser Gottvergessenheit. Dem wollen wir, dem soll dieses Haus dienen auch viele weitere Jahre, Jahrzehnte und, so Gott will, Jahrhunderte. Amen.

Kirchweihfest – Prof. Dr.es Markschies