Wohin ist das Christentum unterwegs?
Víctor Manuel Fernández
Die Frage müsste eigentlich heißen: Wohin entwickeln sich die Christentümer? Ich beziehe mich nicht auf die verschiedenen Konfessionen, sondern auf die sehr unterschiedlichen Auffassungen des Evangeliums innerhalb der verschiedenen Kirchen. Es gibt manchmal sehr starke Polarisierungen zwischen einem Christentum, das offen ist für den Dialog mit der Kultur und das versteht, dass wir mit unseren Plänen nie aus dem Evangelium herauskommen, und einem Christentum, das eine sehr starke Identität um nicht verhandelbare moralische Prinzipien herum bevorzugt, die immer dieselben sind. Diese Unterschiede führen dazu, dass sich mancher Christ im Dialog mit dem Christen einer anderen Konfession oder sogar mit einem Agnostiker wohler fühlt und ein anderer sich mit muslimischen oder pfingstlerischen Gruppen, die bestimmte Grundsätze der Sexualmoral bis aufs Blut verteidigen. Nun stellt sich aber die Frage: Wohin steuert das Christentum? Sie könnte einfach damit beantwortet werden, dass sie zu Christus geht, immer näher zu ihm. In diesem Sinne heißt es ja in Johannes 16,13: „Der Geist wird uns in alle Wahrheit leiten“. Wie wir wissen, ist die „Wahrheit“ im Johannesevangelium nicht abstrakt, sondern Christus selbst. Das heißt also, dass der Geist uns mehr und mehr in die Fülle des Geheimnisses Christi führen wird. Deshalb gehen wir davon aus, dass unser Verständnis der Heiligen Schrift wächst. Aber das geschieht in der Auseinandersetzung mit jeder Zeit. In jedem geschichtlichen Augenblick können wir bestimmte Aspekte des unerschöpflichen Evangeliums Christi ein wenig deutlicher machen. Wohin steuert das Christentum heute? Die Konfrontation mit der heutigen Welt führt uns zu einem neuen und tieferen Verständnis des Evangeliums, zu einer neuen und tieferen Erfahrung von Jesus Christus.
Dann dreht sich die Frage um und führt uns zu der Frage: Worauf steuert die Welt zu?
Das ist eine sehr schwierige Frage, weil unsere Welt, die Erde, so komplex ist und wir diese Komplexität wahrnehmen müssen. Der heilige Thomas von Aquin sagte, dass die Vielfalt der Geschöpfe in dieser Welt den unerschöpflichen Reichtum des Herrn am besten widerspiegelt. Denken Sie an die Vielfalt der Menschen, die die Erde bevölkern. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Leben von Abermillionen von Bewohnern aussieht. Wir werden auch niemals damit fertig werden, das Verhalten von Tausenden von Insekten, Fischen, Vögeln und Bakterien zu erforschen, wenn wir an all das vielfältige Leben denken, das auf dem Land und im Meer wimmelt. Wir reden daher nicht davon, wohin die Menschheit geht, weil wir erkannt haben, dass wir untrennbar mit den anderen Wesen verbunden sind, die mit uns pilgern, die sich nach Fülle sehnen, und wir haben gegriffen, dass ihr Schicksal auch das unsere ist. Sagen wir also: Wohin geht unser Planet?
Aber weil wir nicht alles machen können, bleiben wir einfach bei der Gesellschaft. Manchmal denken wir, dass wir, wenn wir die Nachrichten sehen, wissen, was in unserem Land und in der Welt passiert. Aber das tun wir nicht! Kann überhaupt jemand von uns sagen, dass er sich selbst vollständig kennt? Glauben Sie, dass Sie genau wissen, wer Sie sind? Es kann sein, dass Sie sich ein Bild von sich selbst gemacht haben aufgrund dessen, was andere gesagt oder gefühlt haben. Sie haben eine Art Selbstbildnis geschaffen, das nicht wirklich Ihre Realität widerspiegelt. Das geht so weit, dass Sie sich, wenn Sie sich auf einem Foto oder in einem Film sehen oder in den Spiegel schauen, vielleicht fragen: Bin ich wirklich so? Jeder kennt sich selbst so wenig in dieser undurchdringbaren Mischung von Erinnerungen, Ängsten, Befürchtungen und Wünschen, die er in sich trägt, und in diesem tiefen Unbewussten, in das man nicht einmal mit Hilfe eines Psychologen vollständig eindringen kann.
Wie oft werden wir von inneren Kräften und Tendenzen bewegt, die wir nicht vollständig erkennen oder von denen wir nicht wissen, woher sie kommen? Und wenn man Ihnen mit Worten, andeutungsweise oder mit Gesten gesagt hat, dass Sie ein unangenehmer Mensch sind, dann hat Sie das schließlich überzeugt und Sie glauben letztlich, dass Sie kein liebenswerter Mensch sind. Es ist nicht leicht, das wirkliche Selbst, das wirkliche „Ich“ zu erkennen und reifen zu lassen. Man lernt sich selbst nie vollständig kennen. Der heilige Augustinus sagte es mit anderen Worten: „Du kennst mich, Herr, hilf mir zu erkennen, wer ich bin“.
Außerdem glaubt man, die anderen zu kennen, man glaubt, Laura oder Martin gut zu kennen, aber man weiß, dass man das nicht tut. Was Sie wissen, ist nur das Bild, das Sie sich von dieser Person gemacht haben, die Idealisierung dieses Menschen. Wir ahnen dabei auch immer, dass es viele Geheimnisse gibt, die man nicht kennt. Wie viele Dinge wird es wohl geben, die dieser Mensch Ihnen nicht erzählt, die ihm durch den Kopf gehen, die er empfindet, und in die Sie nicht ganz eindringen können? Was denkt er wirklich? Was passiert mit ihm? Schließlich wissen Sie nie, wer diese Person wirklich ist: ihr Sohn, Ihr Ehepartner. Wenn Sie die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, nicht kennen und nicht einmal sich selbst perfekt kennen können: Wie soll man dann wissen, worauf die Welt zusteuert?
Darüber hinaus wissen wir auch nicht, was die Konzerne, die Politiker, die großen Mächte dieser Welt gerade tun und planen. Alles ist ein Rätsel, und wenn ich wirklich weise sein will, muss ich als Erstes erkennen, dass ich ein unwissend und ein demütig Suchender bin, der den Heiligen Geist braucht, um ihn mit seinem Licht durch dieses Gewirr des Lebens zu führen. So hat es uns die biblische Weisheit immer gelehrt.
Andererseits wissen wir, dass die meisten Medien nicht nach der Wahrheit suchen und auch nicht daran interessiert sind, das Geschehen wahrheitsgetreu wiederzugeben. Sie sind daran interessiert, Nachrichten zu verbreiten, die Aufmerksamkeit erregen, die verstören, die empören, die sich verkaufen, je nach den wirtschaftlichen Interessen der Medienbesitzer. Dann wird oft vorgetäuscht, dass „das Volk“ etwas denkt. Wer ist das Volk? Woher wissen sie, was „das Volk“ denkt? Die großen Interessen setzen sich heute nicht auf blutige Art und Weise durch, sondern über die Medien und die sozialen Netzwerke. Manchmal scheint es so, als ob alle so denken wie die kleine Blase, in der ich mich bewege, oder wie die Medien, die ich nutze, es darstellen. Auch um innere Spannungen zu vermeiden, liest man gewöhnlich das, was einem das bestätigt, was man denkt oder was man will.
Es ist also sehr schwierig zu wissen, wohin sich die Welt entwickelt. Analysten, die versuchen, zumindest die Megatrends, die großen Bewegungen der Gesellschaften, zu entdecken, liegen fast immer falsch, denn sie können nicht vorhersagen, wie die menschliche Freiheit reagiert. Sie können das Unermessliche und das Unfassbare nicht sehen, sie können die verschiedenen Kombinationen nicht erahnen, die mit unvorhersehbaren Auswirkungen auftreten. Denn alles ist miteinander verflochten, und bestimmte Tendenzen könnten erkannt werden – aber dann hängt alles davon ab, wie viele Faktoren zusammenkommen, die für sich genommen unbedeutend erscheinen, aber zusammen Unvorstellbares bewirken können.
Die Welt geht weiter, aber nicht in ständiger Evolution, sondern in „Kursen und Rekursen“, in Bewegung und Gegenbewegung. Es liegt nahe zu glauben, dass die Welt aus ihren Fehlern lernt, aber das bedeutet nicht, dass man sich auf die große Fähigkeit des Menschen zum Vergessen verlassen sollte. In der Tat hat die Gesellschaft nicht aus den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte gelernt, die vermeintlich eine deutliche Botschaft im Blick auf unkontrollierte Spekulationen hinterlassen haben, und nun stellt sich heraus, dass künstliche Intelligenz die Spekulation in unvorstellbarer Weise verstärkt. Nach der Pandemie schien es logisch, in der Welt mehr auf einander zuzugehen und stärker zusammenzuarbeiten, aber was sich ergeben hat, ist eine große Entwicklung der sozialen Netzwerke mit einem starken Effekt der Auflösung, des Desinteresses am anderen, des konsumorientierten Individualismus, der Besessenheit von Freizeit und gleichzeitig hoher verbaler Gewalt. Politische Ideologien werden schwächer, aber Kriege tauchen wieder auf, unabhängig davon, ob die Rechte auf der einen oder die Linke auf der anderen Seite steht. Aus den Weltkriegen, aus der Atombombe, aus der Shoah ist nicht viel gelernt worden. Das heißt, wir hatten etwas gelernt, aber es wird „nachgeholt“, wir machen Rückschritte, und heute können sogar Politiker schreckliche, rassistische, gewalttätige Dinge mit enormer Verachtung für die Schwächsten aussprechen, die vor zwanzig Jahren niemand öffentlich zu sagen gewagt hätte.
Aber wenn wir nicht einmal wissen, wohin sich die Welt entwickelt, können wir uns dann wenigstens fragen, was wir heute in der Welt sehen? Man könnte fragen: Ist es möglich, einige Megatrends zu erkennen, die die Welt oder zumindest die westliche Gesellschaft als Ganzes angehen? Wenn wir uns die Megatrends ansehen, die sich zu verstärken scheinen, sehen wir einen starken Pragmatismus, der letztlich das Überleben des Stärkeren bedeutet: Ich muss überleben, ich muss mich amüsieren und ich muss die Welt explodieren lassen. Dieser Individualismus ist das große Risiko. Die Anziehungskraft Gottes, die sogenannten spirituellen Erfahrungen, verschwinden nicht. Es scheint, dass das Ersticken im Innerweltlichen dazu führt, dass man irgendwann den Kopf hebt und nach etwas anderem sucht. Aber damit dies zu Geschwisterlichkeit und Dienst am anderen wird, bedarf es noch eines weiten Weges; das geht nicht automatisch.
Nicht in unsere Zeit passende Konflikte, die als überholt galten, flammen wieder auf. Geschlossene, überzogene, ressentimentgeladene und aggressive Nationalismen tauchen wieder auf. Dies erinnert uns daran, dass „jede Generation die Kämpfe und Errungenschaften vergangener Generationen aufgreifen und sie zu noch höheren Zielen führen muss. Das ist der Weg. Das Gute wie auch die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität werden nicht ein für alle Mal erreicht, sondern müssen jeden Tag neu errungen werden“ (Papst Franziskus bei der Begegnung mit Vertretern der Regierung und des öffentlichen Lebens sowie mit dem Diplomatischen Corps in Santiago de Chile am 16. Januar 2018; AAS 110 (2018) 256).
Ein weiterer Megatrend in der heutigen Welt ist die kulturelle Durchdringung mit einer Art „Dekonstruktivismus“, bei dem die menschliche Freiheit darauf abzielt, alles von Grund auf neu aufzubauen. Nichts Vorangegangenes ist von Wert; wir haben alle Macht, von vorne anzufangen. Dies ist nicht nur eine Leugnung der Geschichte, sondern auch der Realität selbst und ihrer Grenzen. Es fördert die Idee, dass der menschliche Geist göttlich ist und alles nach seinen Vorstellungen neu erschaffen kann. Wir wissen bereits, wohin ein solches Denken führt, denn wir haben das bereits erlebt. Aber das Vergessen wird immer schneller.
Und dann bleibt nur die Notwendigkeit, grenzenlos zu konsumieren und irgendwie ein ruhiges Leben zu führen, in dem wir so wenig wie möglich stören. Der Kindermangel, der zu einer Überalterung der Bevölkerung führt, und das Übrigbleiben der Älteren in schmerzhafter Einsamkeit sind ein subtiler Ausdruck dafür, dass alles mit uns endet, und dass nur unsere individuellen Interessen zählen.
Ein weiterer Megatrend ist der Grenzverlust bei der Disqualifizierung von Menschen durch Worte. Das ist aktuell eine Form starker Gewalt, die in sozialen Netzwerken sehr präsent ist. In vielen Ländern werden heute politische Mechanismen eingesetzt, um zu aufzuwiegeln, Meinungen zu verschärfen und zu polarisieren. Den jeweils anderen wird auf verschiedene Weise das Existenzrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung abgesprochen, und um dies zu erreichen, greift man auf die Strategie zurück, Menschen lächerlich zu machen, zu verdächtigen und einzugrenzen. Ihr Anteil an der Wahrheit und ihre Werte, werden nicht erfasst, und so verarmt die Gesellschaft und reduziert sich auf die Arroganz des Stärkeren. Die Politik erscheint somit nicht mehr als gesunde Diskussion über langfristige Projekte für die Entwicklung Aller und das Gemeinwohl, sondern findet in der Zerstörung des anderen die wirksamste Ressource. In diesem kleinlichen Spiel der Abwertung anderer wird die Debatte in permanente Infragestellung und Konfrontation umgewandelt. Dies gilt nicht nur für die Politik, sondern für das gesellschaftliche Leben im Allgemeinen, in dem wir uns letztlich wie Wölfe behandeln. Wie ist es in diesem Kontext möglich, den Kopf zu erheben, um den Nächsten anzuerkennen oder denen beizustehen, die auf der Strecke geblieben sind? Ein Projekt mit großen Zielen für die Entwicklung der gesamten Menschheit klingt heute wie eine Illusion!
In den letzten Jahren sind auch positive Megatrends aufgetreten, aber sie werden leicht vom individualistischen Konsumverhalten absorbiert. Ein positiver Megatrend ist zum Beispiel eine neue Sensibilität für den Umweltschutz, die vor allem bei jungen Menschen auftritt. Sie wird jedoch leicht theoretisch und romantisch, weil sie auf den Konsumismus trifft, auf den niemand verzichten will. In der Realität sind nur sehr wenige in der Lage, ihren Lebensstil zu ändern und der Umwelt zuliebe auf etwas zu verzichten. Abgesehen von einigen wenigen Umweltgruppen, die am Ende ja kontrollierbar sind, besteht keine Gefahr, dass die Sensibilität der Bevölkerung den Unternehmen Grenzen setzt.
In diesem Zusammenhang stellt sich die große Frage nach der künstlichen Intelligenz, denn wie niemals zuvor scheint es so, dass der Mensch irgendwann ersetzt werden kann. Und es ist nicht nur so, dass wir uns das vorstellen, sondern wir können bestätigen, dass es bereits passiert. Im Buch Exodus heißt es, dass Gott den Menschen seinen Geist gegeben hat, damit sie „Weisheit, Klugheit und Erkenntnis in allerlei Werken“ haben (Ex 35,31). Unsere Fähigkeiten zu entwickeln bedeutet, die Talente zu entfalten, die wir vom Herrn erhalten haben. Das Problem ist jedoch, dass wir uns dadurch auf trügerische Weise allmächtig fühlen und in der Lage, uns selbst an die Stelle des Schöpfergottes zu setzen.
Einerseits scheint es eine Demokratisierung des Zugangs zu Wissen zu sein, aber andererseits kann es bedeuten, dass enorme Macht in die Hände der Mächtigsten mit den meisten Ressourcen und dem größten Einfluss gelegt wird. Auf der einen Seite könnten Roboter Arbeiten verrichten, die manchmal sklavenhaft oder unmenschlich erscheinen, auf der anderen Seite könnten die Roboter auch dazu führen, dass es weniger Arbeitskräfte gibt und viele ohne Einkommen bleiben, während die Unternehmen ihre Kosten senken.
Des Weiteren hört die künstliche Intelligenz leicht auf, unter der Kontrolle des Menschen zu stehen, und es kommt der Zeitpunkt, ab dem sie autonom handelt, die Systeme werden fähig, Millionen von Daten zu verarbeiten, sie zu kombinieren und ihre Berechnungen zu ändern. So wie sie einem Börsenmakler Informationen für eine Investition geben kann, so kann sie auch einen bestimmten Eingriff hervorrufen, der die Richtung der Märkte ändert. Sie kann Konflikte vorhersehen, aber auch provozieren, so wie sie durch Wiederholung von Falschinformationen (Fake News) in den sozialen Netzwerken dazu führt, dass diese verstärkt und für wahr gehalten werden – mit allen Konsequenzen, die dies haben kann!
Aber die Realität rächt sich früher oder später; der Mensch ist nicht Gott. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir ein, dass in den letzten 2000 Jahren in einem Moment der Geschichte der heilige Augustinus auftauchte, in einem anderen Moment Franz von Assisi, in einem anderen Moment Martin Luther. Luthers Erdbeben war eine Ohrfeige des Geistes für eine völlig verweltlichte Kirche, die nicht mehr auf das Evangelium hörte, aber wie gut war dieses Erdbeben auch für die katholische Kirche. Und diese Reformer, Augustinus, Franziskus und Luther, kamen nicht allein, sondern es gab sofort eine Gemeinschaft, die sie begleitete, um weiterzukommen.
In letzter Zeit gab es in der katholischen Kirche eine Neuausrichtung; ganz unvorhergesehen trat Papst Franziskus auf den Plan. Wir zählen auf das Unvorhersehbare, das der Heilige Geist zu etwas Neuem und Anderem lenken kann. Es bleibt, auf das Wirken des Heiligen Geistes zu vertrauen und auf die Fähigkeit des Guten, aus der Asche aufzustehen, trotz des Widerstands vieler, denn es ist der Auferstandene, der durch die Welt schreitet.
Aber heißt das, dass wir nur passiv warten können? Können wir als Gläubige etwas tun angesichts dessen, was unsere Möglichkeiten auf diese Weise übersteigt? Ich glaube, dass wir heute, wo wir darauf programmiert sind, nur im Augenblick zu leben, also zu kaufen, zu konsumieren, von den Neuheiten des Marktes abhängig zu sein, annehmen können, dass Gott will, dass wir glücklich sind, dass er nicht der Feind unseres Wohlbefindens ist. Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass das vergänglich und unbefriedigend ist, wenn wir nicht in der Lage sind, auch den anderen zu erkennen. Es gibt nichts Schöneres, als mit anderen zu gehen und zu leben und tiefe Befriedigung darin zu finden, anderen dabei zu helfen, besser zu leben.Wir haben allein nicht die Kraft dazu, die egoistische Gier nach Befriedigung (concupiscentia) übt ständig ihre Herrschaft aus. Deshalb müssen wir uns von Christus ergreifen lassen, um jeden Tag die Erfahrung seiner Freundschaft und seines neuen Lebens zu erneuern und uns vom Heiligen Geist antreiben zu lassen.
Und weil wir von so viel individualistischer Ideologie bombardiert werden, müssen wir das Evangelium immer wieder hören. Denn das Evangelium wird uns von keiner Philosophie dieser Welt geboten. Die Vernunft allein führt heute nur zu mehr „individuellen Rechten“. Aus Bosheit? Nein! Eher aus Irrtum und Besessenheit eines menschlichen Herzens, das in einem perversen Getriebe versunken ist. Die Welt in ihrer Dynamik ist krank, und das, worüber sie nachdenkt, führt zu noch mehr Individualismus. Die Welt wird keinen Ausweg aus diesem Labyrinth finden. Dazu ist das Evangelium ist notwendig. Das drückt Papst Franziskus folgendermaßen aus:
„Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr unser Inneres in Schwingung versetzt, werden wir die Freude verlieren, die aus dem Mitgefühl entsteht, die Zartheit, die aus dem Vertrauen kommt, die Fähigkeit zur Versöhnung, die ihre Quelle in dem Wissen hat, dass uns vergeben wurde und dass auch wir vergeben sollen. Wenn die Musik des Evangeliums in unseren Häusern, in der Öffentlichkeit, an unseren Arbeitsplätzen, in der Politik und der Wirtschaft nicht mehr zu hören ist, dann haben wir wohl die Melodie abgeschaltet, die uns herausfordert, für die Würde jedes Mannes und jeder Frau ungeachtet ihrer Herkunft zu kämpfen“ (Franziskus, Fratelli tutti, 277).
Wir geben dieses Gut nicht auf und wir sind nicht identisch damit, denn wir sind berufen, in der Welt zu sein, ohne von der Welt zu sein. Und es gibt für uns den Schmetterlingseffekt, dass eine kleine, aber reale Veränderung in der Art und Weise, wie wir leben, unsere Zusammenarbeit mit Christus zum Guten wirkt und sich schließlich wie Wellen im Meer ausbreitet. Wenn wir zulassen, dass die Gnade uns antreibt, können wir den Kopf heben, um den anderen zu erkennen, Bande der Einheit zu knüpfen, etwas zum Wohle des anderen anzubieten – und all das bringt neues Leben in diese alte Welt.
Im Buch Genesis lesen wir, dass die Sünde und Verderbtheit der Städte Sodom und Gomorra so groß waren, dass Gott sie vernichten wollte. Doch Abraham brachte vor Gott vor, dass es dort auch gute Menschen geben könnte: „Willst du denn die Gerechten zusammen mit den Schuldigen vernichten?“ (1. Mose 18,23). Daraufhin versprach ihm Gott, diese Städte nicht zu zerstören, wenn es dort nur zehn Gerechte gäbe (1. Mose 18,32). Auch wenn die Bibel von der Sintflut berichtet, sehen wir, dass Gott die Menschheit nicht völlig vernichtet hat, weil es zumindest einen Gerechten gab: Noah (1. Mose 7,1). Auf diese Weise will uns die Bibel lehren, dass es sich lohnt, ein guter Mensch zu sein, dass es nicht nutzlos ist, treu zu sein. Selbst wenn ich mich an einem Ort befinde, der von schlechten Absichten und Falschheit umgeben ist, lohnt es sich, in der Liebe, in der Gerechtigkeit, im inneren Frieden und in der Güte auszuharren. Denn der Herr nimmt das wirklich wahr, berücksichtigt es, und es kommt dem Wohl der ganzen Menschheit zugute – auch wenn ich nicht weiß und nicht sehe, wie. Ich kann das nicht ohne die Hilfe des Heiligen Geistes tun, aber mit seiner Kraft wird keine meiner Bemühungen vergeblich sein, und keines meiner Leiden um der Treue willen wird vergeblich sein. Nach dem Willen des Herrn wird meine Treue dazu dienen, viele Menschen zu retten, ja viele Menschen vor dem Untergang zu bewahren. Weil das Gute auf geheimnisvolle Weise wirkt, bringt es in der Stille Früchte hervor. Deshalb gilt, was der heilige Paulus sagt: „Lasst uns nicht müde werden, Gutes zu tun“ (Gal 6,9) und ein anderes Leben zu wählen, mit dem Herzen erlöster Kinder.
Auch wenn es den Anschein haben mag, dass die ungeheuren Mächte dieser Welt, die sozialen Netzwerke und die künstliche Intelligenz, dem Evangelium jede Möglichkeit nehmen, die Herzen zu erleuchten: Wir können sicher sein, dass das nicht der Fall ist. Die Offenbarung sagt, dass da der auferstandene Herr ist, der in dieser Welt kämpft, wie es ihm richtig erscheint. Der kann uns aus der Asche auferwecken, und der wird weiterhin siegen (Offb 6,2) – zusammen mit uns, zusammen mit „den Seinen, mit den Berufenen, den Auserwählten und den Gläubigen“ (Offb 17,14).