Lukas 6,27-38

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserem
Herrn Jesus Christus. Amen.

Um Frieden geht es am heutigen Sonntag, liebe Gemeinde, und um den
Blick auf das Ende. Auf unser eigenes Ende, auf das Ende der Welt.
Beide Aspekte sind mit diesem drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
verbunden. In den biblischen Lesungen haben wir vom Ausblick auf die
Erlösung gehört und davon, wie es sein wird, wenn Gott sein Reich
aufrichtet. Paulus blickt im Römerbrief voraus auf die Herrlichkeit der
Kinder Gottes, die uns erwartet, wenn wir diese vergängliche Welt hinter
uns gelassen haben werden, mit allem, was uns jetzt noch ängstigt und
beschwert. Die ganze Schöpfung wird einbezogen sein in die endgültige
Erlösung, denn auch sie, die Schöpfung, leidet in der Gegenwart. Sie
leidet unter uns Menschen – unter unserer Unbedachtheit, unserem
Egoismus, unserem Immer-mehr-Wollen. Auf einer Tagung am Pontifico
Istituto Biblico zum Thema „Bibel und Ökologie“, die gestern zu Ende
gegangen ist, haben wir über den Zusammenhang von biblischer
Botschaft und unserer Verantwortung für die Schöpfung nachgedacht.
Im Lukasevangelium, auch das haben wir vorhin bereits gehört, spricht
Jesus vom Menschensohn, der am Ende der Zeit wiederkommen wird.
Man weiß nicht wann, darum ist es gut, dafür bereit zu sein, dass es
irgendwann, plötzlich und unerwartet zu Ende sein kann mit unserem

2

Leben, mit dieser Welt. Es ist gut, so zu leben, dass wir uns bei all
unserem Tun der Endlichkeit unseres Lebens bewusst sind. Dass wir
darauf achten, was gut und zuträglich ist für uns, für unsere
Mitmenschen, für die Schöpfung. Dass wir nach dem Willen Gottes
leben, der diese Welt erschaffen hat und sie erhält.
Der heutige Sonntag, der auf den 9. November fällt, ist aber auch über
die biblischen Bezüge hinaus ein wichtiger Gedenktag, zumindest in
Deutschland. Es ist der Tag, an dem vor 36 Jahren, im Jahr 1989, die
Berliner Mauer geöffnet und damit das Ende der deutschen Teilung
eingeleitet wurde. Am 9. November 1938, also vor 87 Jahren, wurden im
damaligen Nazi-Deutschland Hunderte Synagogen in Brand gesetzt,
unzählige jüdische Geschäfte zerstört, viele jüdische Menschen verhaftet
und in Konzentrationslager verschleppt. In vielen Veranstaltungen wird
heute in Deutschland der großen Schuld, die Deutschland damit dem
jüdischen Volk gegenüber auf sich geladen hat, gedacht. Auch für uns
Christen ist das von großer Bedeutung. Das Verhältnis zu Israel, Gottes
auserwähltem Volk, ist für die christliche Kirche grundlegend. Mit dem
jüdischen Volk, seinen Schriften und Traditionen, sind wir seit jeher eng
verbunden. Und die christliche Kirche hat sich im Lauf ihrer Geschichte
immer wieder schuldig gemacht an Gottes Volk. Lange, viel zu lange hat
es gedauert, bis die Kirche diese Schuld eingestanden hat. Auch daran
ist heute zu denken.
Ein denkwürdiger Tag, dieser 9. November. Er ruft uns menschliche
Schuld und Vergänglichkeit ins Gedächtnis. Und er lenkt unseren Blick
darauf, dass wir mit unserer Lebenszeit bewusst und sorgsam umgehen
sollen, denn sie ist begrenzt. Irgendwann wird jeder und jede mit der
Frage konfrontiert sein: Was habe ich mit meiner Lebenszeit
angefangen? Habe ich sie dafür verwendet, was mir wichtig ist? Schaue
ich auf mein Leben zurück in dem Bewusstsein, die Zeit gut genutzt zu
haben, die mir Gott geschenkt hat? Es ist gut und heilsam, sich diese

3

Frage von Zeit zu Zeit ins Bewusstsein zu rufen, denn jeder neue Tag
trägt ein Stück dazu bei, wie sich der Kreis unseres Lebens rundet. Die
letzten Wochen des Kirchenjahres, die nun vor uns liegen, bieten dazu
Gelegenheit.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag gibt uns sehr konkrete
Hinweise darauf, wie wir in unserem Leben dem Gebot Gottes
entsprechen können. In seinem Zentrum steht die Aufforderung, unsere
Feinde zu lieben. Dieser Text steht in einer Rede Jesu im
Lukasevangelium und ganz ähnlich auch in der Bergpredigt, die sich im
Matthäusevangelium findet. Hören wir auf den Text, wie er bei Lukas im
6. Kapitel steht:

27 Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen,
die euch hassen; 28 segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch
beleidigen. 29 Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die
andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch
den Rock nicht. 30 Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine
nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, dass euch
die Leute tun sollen, so tut ihnen auch! 32 Und wenn ihr liebt, die euch
lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die
ihnen Liebe erweisen. 33 Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut,
welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34 Und wenn
ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank
habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche
zurückbekommen. 35 Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht,
ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr
werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die
Undankbaren und Bösen.
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet
nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr

4

nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch
gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß
wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr
messt, wird man euch zumessen.

Die Feinde zu lieben, liebe Gemeinde, – das ist ein hoher Anspruch. Und
es steht in einem eklatanten Gegensatz zu dem, was wir gegenwärtig
erleben. Schauen wir auf die Konflikte, die derzeit die Nachrichten
bestimmen, dann mögen wir denken: es wäre ja schon viel erreicht,
wenn endlich das sinnlose Morden und Zerstören aufhören würde, das
nun schon seit fast vier Jahren in der Ukraine tobt. Es wäre ja schon gut,
wenn im Nahen Osten endlich ein stabiler Friede einkehren würde und
die nur schwer erträglichen Bilder aus den dortigen Regionen der
Vergangenheit überantwortet werden könnten. Es wäre ja schon gut,
wenn es etwas gerechter und menschlicher zugehen würde in vielen
Ländern unserer Erde, in denen Gewalt und Aggression den Alltag
bestimmen. Die Welt erscheint alles andere als friedlich in diesen Zeiten.
Wirkt Jesu Forderung, die Feinde zu lieben, da nicht einigermaßen
utopisch, unrealistisch, aus der Zeit gefallen? Und wie soll das überhaupt
gehen, die Feinde zu lieben? Was sollen wir uns darunter vorstellen?
„Lieben“ meint hier, und in vielen anderen Fällen auch, keine innige
Zuneigung, wie wir sie zu unserer Familie oder sehr nahen Freunden
haben. Es ist nicht gemeint, dass ich mit denen, die mir fernstehen oder
sogar meine Gegner sind, nun plötzlich in inniger Freundschaft
verbunden oder gar mit ihnen zusammenleben soll. Gemeint ist
vielmehr, den Kreislauf von Vergeltung und Wiedervergeltung zu
durchbrechen und so dem Bösen Einhalt zu gebieten. Gemeint ist eine
Haltung, mit der wir zum Ausdruck bringen: Auch wenn der oder die mir
ein Unrecht zugefügt hat, zahle ich ihm oder ihr das nicht mit derselben
Münze heim. Feindesliebe heißt zuerst und vor allem: Dem Bösen

5

keinen Raum zu geben in meinen Beziehungen zu anderen Menschen.
Das ist nicht einfach und kostet manchmal ziemlich viel Überwindung.
Aber damit tue ich nicht nur anderen, sondern auch mir selbst etwas
Gutes, weil es eine Atmosphäre der Ausgeglichenheit und Zufriedenheit
schafft. Dass dies unser körperliches und seelisches Wohlbefinden
befördert, haben medizinische und psychologische Studien schon lange
herausgefunden. Darum kann man sogar sagen: Feindesliebe ist auch
Selbstliebe. Ich mache nicht nur dem anderen deutlich, dass ich dem
bösen Wort, dem bösen Gedanken keinen Raum gebe, sondern lasse
das auch bei mir selbst nicht die Oberhand gewinnen. Hass und
Feindschaft zerstören Beziehungen und das eigene Leben; Zuwendung,
Rücksicht, Barmherzigkeit machen das Leben dagegen lebenswert, für
mich selbst und für die Menschen um mich herum.
In unserem Predigttext wird das mit mehreren Beispielen illustriert: die
andere Wange hinhalten, noch mehr dazu geben, wenn etwas von uns
gefordert wird, nicht zurückfordern, wenn wir anderen etwas gegeben
haben. Auf diese Weise machen wir deutlich, dass wir zum
Zurückstecken eigener Erwartungen bereit sind und nicht darauf
bestehen, uns selbst immer durchzusetzen und uns nur ja nichts gefallen
zu lassen. Feindesliebe ist so betrachtet kein übermenschlicher oder
utopischer Anspruch, der uns da aus der Rede Jesu entgegentritt. Es ist
vielmehr eine lebenspraktische Forderung, die die Verhältnisse unter uns
Menschen auf eine gute, eine förderliche, eine für uns alle heilsame
Grundlage stellt. Die unsere Füße auf den Weg der Gerechtigkeit und
des Friedens lenkt.
Hinzufügen muss man allerdings auch: die so verstandene Feindesliebe
ist kein Patentrezept für den Frieden in der Welt. Aggressoren lassen
sich nicht damit stoppen, dass wir sie einfach gewähren lassen, ihnen
die andere Wange hinhalten oder noch mehr dazugeben. Feindesliebe
ist keine Regel, mit der man kriegerische Auseinandersetzungen in der

6

Welt beenden kann. Dem Bösen muss Einhalt geboten werden – zuerst
und vor allem um der Menschen willen, die darunter leiden. Für Frieden
und Gerechtigkeit einzustehen, bedeutet auch, dem Bösen zu
widerstehen. Dietrich Bonhoeffer und der Widerstandskreis, dem er
angehörte, sind ein prominentes Beispiel dafür, wie gerade aus einer
festen christlichen Überzeugung heraus um anderer Menschen willen
dem Bösen Widerstand geleistet wurde.
Die Feindesliebe ist ein wichtiger Schritt dabei. Sie kann Beziehungen
zwischen Menschen und in Gemeinschaften verändern. Wenn Friede
und Gerechtigkeit unser Zusammenleben prägen, verliert das Böse an
Kraft und Bedeutung. Wenn Geduld und Mitgefühl unseren Umgang
miteinander bestimmen, wird die Welt heller, freundlicher, lebenswerter.
Die Friedensstifter sind darum diejenigen, die den Willen Gottes tun und
so die Welt verändern. So heißt es im Wochenspruch für diese Woche.
Die große Verheißung, die über dem Tun des Guten, über der
Barmherzigkeit und dem Friedenschaffen, steht, ist die Offenbarung der
Gerechtigkeit Gottes für alle, die sich für seine gute Ordnung einsetzen.
Noch seufzen wir unter all der Unvollkommenheit, noch sind Leid und
Tod nicht besiegt, noch leidet auch die Schöpfung unter all dem, was wir
ihr antun. Aber wir dürfen gewiss sein, dass Gott seine Gerechtigkeit
durchsetzen wird; dass er sich am Ende als stärker erweisen wird als
alles, was seiner Gerechtigkeit jetzt noch entgegensteht.
Und so kommen die beiden Schwerpunkte dieses Gottesdienstes, der
Friede und der Blick auf das Ende, zusammen. Um Frieden sollen wir
uns bemühen, wo immer wir die Gelegenheit dazu haben. Frieden unter
uns Menschen, Frieden mit der Schöpfung. Wir können das immer nur
bruchstückhaft tun, ohne dass wir dadurch die Welt im Ganzen zum
Guten verändern würden. Aber es sind die kleinen, oft auch
unscheinbaren Schritte, die wir gehen können, hin zu einer friedlicheren

7

Welt, einer Welt, in der es sich zu leben lohnt, einer Welt, die erkennbar
wird als Gottes gute Schöpfung.
Barmherzigkeit, Vergebung, Güte sind aktive Mitarbeit daran, dass sich
Gottes Ordnung in unserer Welt, in unserer Stadt, in unserer Gemeinde
durchsetzt. Es ist aktives Mitwirken daran, dass Gottes Welt ein
menschenfreundliches Antlitz bekommt und die Schöpfung als Gottes
gute Gabe für uns respektiert wird. Es ist Mitarbeit daran, dass die
Barmherzigkeit Gottes zum Maßstab für unser eigenes Tun wird.
Heute, am Tag des Gedenkens an die Pogrome gegen jüdische
Menschen und Einrichtungen in Deutschland, steht uns besonders vor
Augen, wie wichtig es ist, gegen Menschenverachtung und Brutalität
aufzustehen. Wir erheben unsere Stimme im Namen Gottes, der allem
Leid und aller Hoffnungslosigkeit widersteht, der stärker ist auch als der
Tod. Wir stehen an der Seite all derer, deren Leben bedroht ist, die
verfolgt und geschunden sind. Als Christen passen wir uns nicht den
Ordnungen dieser Welt an, sondern setzen ihnen unsere Gewissheit
entgegen, dass Gottes Macht weiter reicht als die der Menschen. Das
mag zuweilen unbequem sein und manchem nicht passen. Wir sind aber
zuerst und vor allem der Botschaft Gottes verpflichtet, die wir in der Welt
hörbar machen. Diese Botschaft heißt: Die Leiden der jetzigen Welt
gelten nichts im Vergleich mit der Herrlichkeit, die Gott für uns bereithält.
Die künftige Herrlichkeit – sie kann bereits im Hier und Jetzt
aufscheinen, getragen von der Gewissheit, dass es gut werden wird mit
uns und mit der Welt. In dieser Zuversicht können wir in die vor uns
liegenden Wochen gehen. Sie wird uns tragen bis zum Ende des
Kirchenjahres. Sie wird uns Mut und Kraft geben für das neue Jahr, in
dem wir den erwarten, den Gott in die Welt gesandt hat, damit Friede
werde. Amen.

Drittletzter Sonntag – Prof. Dr. Schröter