Es gibt, liebe Gemeinde, nur wenige Kantaten von Johann Sebastian Bach, die in der Leipziger Thomaskirche auch noch einmal nach seinem Tod 1750 aufgeführt worden sind; regelmäßige Kantatenaufführungen gibt es dort erst seit 1918. Und eine dieser wenigen Kantaten ist die, die wir eben gehört haben, „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“. Komponiert für das zweite Jahr in Leipzig 1725, noch einmal aufgeführt 1755, zum zweihundertjährigen Jubiläum des Religionsfriedens von Augsburg 1555. Warum führte man die Kantate ein zweites Mal auf, als Bach längst gestorben war und sein direkter Amtsnachfolger übrigens auch schon? Offenbar hatte Bach etwas so gut in Noten und Töne gefasst, dass man sich noch dreißig Jahre nach der ersten Aufführung an diese Töne erinnerte.
Was aber war das, liebe Gemeinde, was Bach so gut in Töne und Noten gefasst hatte? Natürlich kann man nicht ausschließen, dass man sich auch nur an die Töne erinnerte, die festliche Solotrompete zu Beginn mit einer exorbitant schweren Partie, die das Stürzen von Feinden und den Triumpf Christi gleichsam mit wilden und beruhigenden Tönen untermalt. Aber dagegen spricht die Tatsache, dass man die Kantate ausgerechnet für ein großes Jubiläum wieder aus den Notenschränken holte und 1755 aufführte, zum Jubiläum eines Friedensschlusses, der nach langen und schweren Auseinandersetzungen die reichsrechtliche Anerkennung der evangelischen Kirchen und Koexistenz von evangelischen und katholischen Kirchen feierlich abschloss. Offenbar dachte man in Leipzig, dass die Kantate eine bestens gelungene, festliche und stolze Selbstvergewisserung der evangelischen Kirche über ihr Evangelisch-Sein war, eine für festliche Jubiläen der evangelischen Kirche bestens geeignete Selbstvergewisserung, die Bach da gelungen war. Deswegen passt sie natürlich auch bestens zum Reformationsfest, an dem wir uns als evangelische Kirche vergewissern, warum wir in der Tradition Martin Luthers und der Reformation stehen, selbst wenn wir heute auch gern andere einladen, mit uns den Reichtum dieser Tradition zu entdecken und nicht in ängstlicher Abgrenzung von den katholischen Nachbarn feiern. Das wäre in Rom auch ziemlich unsinnig. Schließlich feiern wir in diesem Jahr 2024 auch das fünfundzwanzigjährige Jubiläum einer „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, in der evangelische und katholische Kirchen grundlegende Gemeinsamkeiten im Verständnis der Rechtfertigung festgehalten haben.
Damit sind wir aber schon, liebe Gemeinde von der Selbstvergewisserung evangelischer Kirche bei Bach vorwärts geeilt zu der einen der biblischen Lesungen dieses Festgottesdienstes, genauer zur ersten aus dem Römerbrief (3, 21-28):
„Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. … So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“.
Das ist, liebe Gemeinde, knapp auf die ersten beiden und den letzten Satz zusammengestrichen, die Botschaft von der Rechtfertigung, wie sie der Apostel Paulus formuliert hat und sie der Wittenberger Theologieprofessor Martin Luther beim Vorlesungsschreiben über den Römerbrief und beim Nachdenken über die Sakramente der Kirche wieder neu entdeckt hat. Das ist Reformation, das feiern wir heute, in unserem Festgottesdienst anlässlich des Gedenktages der Reformation – und freuen uns darüber, dass diese biblische Wahrheit heute die Kirchen nicht mehr trennen muss, sondern ein gemeinsamer Schatz ist, auf den wir alle miteinander stolz sein können. Oder soll ich sagen: Könnten?
Ich erinnere mich noch daran, wie vor fünfundzwanzig Jahren in deutschen Fakultäten, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und an vielen anderen Stellen erbittert gestritten wurde. Haben wir tatsächlich mit der römisch-katholischen Kirche einen Konsens über Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre? Oder verstehen wir doch diesseits und jenseits des garstigen Grabens, der seit dem sechzehnten Jahrhundert die Konfessionen trennt, etwas Unterschiedliches unter Rechtfertigung? Heute streitet niemand mehr um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Inzwischen sind auch die Anglikaner, die Methodisten und einige weitere evangelische Kirchen sowie Gemeinschaften der Erklärung beigetreten. Heute streitet niemand mehr. Ist man in den letzten fünfundzwanzig Jahren vielleicht des Streitens müde geworden? Oder interessiert sich einfach in den evangelischen Kirchen gar niemand mehr dafür, was Rechtfertigung genau meint und ob wir uns mit anderen darüber einig sind?
An genau dieser Stelle, liebe Gemeinde, setzt unsere Kantate an – genauer gesagt, an genau dieser Stelle setzt das Kirchenlied an, das der uns heute unbekannte Textdichter der Kantate von Johann Sebastian Bach zugrunde gelegt hat. Einige der Strophen dieses Kirchenliedes stammen von Luther, andere von einem Freund und Schüler Luthers, Details tun hier heute nichts zur Sache. Luther hat das Lied einmal als Gebet für Kinder zu schreiben begonnen, die sich wegen der Eroberung Europas durch die Türken fürchteten, es wurde ausgeweitet als Gebetslied für Menschen allgemein, die um ihren christlichen, evangelischen Glauben Angst haben. „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ war ein Lied für Menschen, die Angst haben. Angst davor, dass die Türken, der Papst, osmanische und katholische Heere die deutschen Territorien mit den jungen evangelischen Kirchen überfallen, erobern und es dann alsbald ein Ende haben muss mit der Freiheit, seinen evangelischen Glauben zu bekennen: Zwangs-Katholisierung, Zwangs-Islamisierung, Menschen konnten im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert davon ein Lied singen. Konvertierte der Fürst, hatten seine Untertanen zu konvertieren. Eroberte die türkische Armee ein Gebiet auf dem Balkan, nahm der Druck auf die Christen unter Umständen brutal zu. Und schließlich Seuchen, Krankheiten, der jähe Tod im eigenen Bett. Und schließlich gar noch die falschen Brüder – damit meinte ein frommer Lutheraner im sechzehnten Jahrhundert natürlich zu allererst die reformierten Mitbrüder, zwei Spielarten evangelischer Kirche, die voneinander nichts Gutes erwarteten und sich auch nichts Gutes antaten.
Liebe Gemeinde, wir feiern Gottesdienst und wir feiern den Gedenktag der Reformation, und sind ja nicht in die Kirche gekommen, um eine Vorlesung zu hören. Weder eine über Bachs Kantate noch eine über Luthers und seiner Freunde Lied und das Reformationsjahrhundert. Aber auch wenn heute keine türkischen Armeen mehr vor Wien stehen, keine Zwangs-Katholisierung und mindestens in Europa auch keine Zwangs-Islamisierung mehr drohen, reformierte und lutherische Christenmenschen sich inzwischen bestens verstehen und katholische und evangelische auch – Angst haben die Menschen immer noch. Mir scheint sogar, dass Menschen in Mitteleuropa sogar wieder mehr Angst haben als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Ich spüre das, wenn ich beispielsweise auf Marktplätzen mit wildfremden Menschen spreche: Viele, viele Menschen haben heute viel, viel Angst. Wenn Luther heute ein Gebetslied gegen die Erzfeinde schreiben wollte, die uns allen Angst machen, dann ginge es vermutlich um Krieg und Gewalt, Pandemien und Umweltkatastrophen, um eine schrumpfende evangelische Kirche und eine tief verwirrte Christenheit, durch Missbrauchs-Skandale und schwere Auseinandersetzungen zusätzlich geplagt. Angst haben die Menschen genauso wieder wie zu den Zeiten, als Luther und seine Freunde das Lied schrieben, das Bachs Textdichter seiner Kantate zugrunde legte und Angst haben sie genauso auch wieder wie zu Zeiten von Johann Sebastian Bach.
Was hilft gegen Angst um Leib und Leben, Umwelt und Frieden, was tröstet bei Angst um den Fortbestand unseres mitteleuropäischen Christentums mit Kirchen und Kantatengottesdienstes darin? Auf diese Frage, liebe Gemeinde, antwortet heute nicht nur die Kantate und das Lied von Luther samt Freunden. Auf unsere bange Frage, was uns in der Angst tröstet, antwortete schon der Psalm zu Beginn des Gottesdienstes: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben“. Am Gedenktag der Reformation verweisen wir tunlichst, wenn wir Trost und Hilfe in unseren Ängsten erhoffen, nicht auf uns selbst. „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke“. So der Psalm. Bei Bach heißt das in der Kantate: „Sende deine Macht von oben, Herr der Herren, starker Gott!“
Vielleicht möchten Sie es aber, vielleicht möchten wir es doch noch etwas konkreter wissen, liebe Gemeinde, und fragen: Wie kommen wir nun aber von unseren Ängsten los? Was macht uns fröhlich und getrost? Auf diese Frage antwortet der Textdichter in Bachs Kantate mit einem Rezitativ, das wir vor dem Schluss-Choral vorhin gehört haben:
So wird dein Wort und Wahrheit offenbar
Und stellet sich im höchsten Glanze dar,
Dass du vor deine Kirche wachst,
Dass du des heilgen Wortes Lehren
Zum Segen fruchtbar machst;
Und willst du dich als Helfer zu uns kehren,
So wird uns denn in Frieden
Des Segens Überfluss beschieden.
Die barocke Sprache verdeckt vielleicht ein wenig, liebe Gemeinde, dass hier einfach ein Grundgedanke der Theologie Martin Luthers ausgedrückt ist, an den wir an einem Gedenktag der Reformation auch erinnern. Ein Grundgedanke – ich sollte besser sagen: eine Grunderfahrung. Die Erfahrung, dass biblische Texte, die mir ein anderer Mensch zusagt, ins Gesicht freundlich zuspricht, mich trösten und von aller Angst frei machen können. „Dass du des heilgen Wortes Lehren / zum Segen fruchtbar machst“ – das meint: Wenn es gut geht, kommen wir mit allen unseren Ängsten und Sorgen in den Gottesdienst und gehen, nachdem uns das biblische Wort zugesprochen wurde, fröhlicher heraus, fröhlicher und getroster. Und wir bitten unseren Gott an diesem Gedenktag der Reformation darum, dass er uns die Orte, an denen uns biblische Texte so heilsam, so tröstlich, so entängstigend zugesprochen werden, erhalten möchte auch in diesen krisenhaften Zeiten. An dieser Stelle streiten sich katholische und evangelische Christenmenschen – Gott sei Dank – nicht mehr, und lachen gemeinsam über eine ziemliche lustige Verspottung unseres Liedes im katholischen Kreisen im sechzehnten Jahrhundert: „Erhalt uns, Herr, bei deiner Wurst, / Sechs Maß, die löschen einen den Durst“. Könnte ja aber auch ein evangelischer Christenmensch gewesen sein, der das dichtete, weil ihm die Predigt wieder etwas zu lang dauerte.
Am Gedenktag der Reformation erinnern wir in einer Zeit alter und neuer Ängste, in einer Zeit alter und neuer Krisen, daran, dass biblische Texte, wenn wir sie einander zusprechen, wenn sie uns im Gottesdienst zugesprochen werden, uns die Angst nehmen, uns getrost und fröhlich machen können. Wir bezeugen einander diese Erfahrung, wir bitten um diese Erfahrung, wir teilen diese Erfahrung miteinander. In diesem Sinne: ein fröhliches Reformationsgedanken, frei von aller Angst. Amen.