Johannes 6,47–51
Der Predigttext für den heutigen Sonntag, liebe Gemeinde, steht im Johannesevangelium, im 6. Kapitel. Es ist das Ende einer langen Rede Jesu über sich selbst als „das Brot der Welt“. Jesus hält diese Rede vor Menschen aus dem jüdischen Volk, die sein Wirken schon eine Weile miterlebt hatten. Insbesondere hatten sie dabei gesehen, wie er machtvolle Taten vollbrachte: er heilte Menschen und verkündigte ihnen, dass sie durch den Glauben an ihn als den von Gott in die Welt Gesandten gerettet werden. Sie hatten auch erlebt, wie er auf einer Hochzeit Wasser in Wein verwandelt und später eine große Menschenmenge mit nur wenigen Broten und Fischen satt gemacht hatte. Und sie waren in Erstaunen darüber geraten, wozu Jesus imstande war. Ein Prophet ist er, so hatten sie gesagt. Er wirkt unter uns im Auftrag Gottes.
Das aber war ein nur unvollständiges und unzureichendes Verständnis dessen, was das Wirken Jesu tatsächlich bedeutet. Ihr wollt nur die Zeichen sehe, die ich tue, hielt Jesus ihnen deshalb vor. Wichtig aber ist, dass ihr erkennt, worauf sie hinweisen: nämlich auf mich, der ich von Gott komme und ihn in der Welt und bei euch sichtbar mache. Ich bin derjenige, durch den Gott, der eigentlich unsichtbar ist, in der Welt erfahren werden kann. Um zu verdeutlichen, was er damit meint, spricht Jesus im Johannesevangelium immer wieder in großen, eindrücklichen Bildern über sich selbst. „Ich bin das Licht der Welt“; „Ich bin die Auferstehung und das Leben“; „Ich bin der gute Hirte“, „Ich bin der Weinstock“ – und auch: „Ich bin das Brot des Lebens“. Alle diese gut bekannten Worte Jesu über sich selbst finden sich im Johannesevangelium. Es sind Bilder dafür, dass Jesus in die Welt bringt, was eigentlich in den Bereich Gottes gehört: Licht, Leben, ewiges Heil. Jesus verbindet den heiligen Gott mit uns unheiligen Menschen. Er bringt Licht ins Dunkel, ewiges Leben in unsere vorläufige, unvollkommene Existenz. So wird der vollkommene Gott sichtbar und erfahrbar, mitten in unserer unvollkommenen Welt. Das ist die große, die befreiende Botschaft des Johannesevangeliums.
Und dazu gehört auch: Jesus ist für diese Welt gestorben und hat so neues Leben ermöglicht. Wir haben es im Wochenspruch und in der Evangeliumslesung bereits gehört: Wie das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt und gerade dadurch viel Frucht hervorbringt, so bedeutet auch der Tod Jesu Leben für die Welt.
Das neue Leben, das Jesus bringt, steht auch im Zentrum des heutigen Predigttextes. Jesus hatte eine große Menschenmenge satt gemacht. Daraufhin hatten sie ihn als Propheten bezeichnet und wollten ihn sogar zum König machen. Sie hatten aber nicht verstanden, worum es bei Jesus und seinem Wirken in Wahrheit geht. Die Speisung der vielen Menschen hatte eine tieferliegende Bedeutung. Sie ist ein Zeichen dafür, wer Jesus ist. Er ist das „Brot des Lebens“, das soll man verstehen, die Speisung ist nur eine äußerliche Veranschaulichung davon. Erst wenn man erfasst hat, wer Jesus ist, ist man zum Glauben an ihn als den Sohn Gottes gekommen, der ewiges Leben in die Welt bringt. Und damit sie das verstehen – und wir das verstehen –, hält Jesus eine lange Rede über sich selbst als „das Brot der Welt“. Zu dieser Rede gehört auch der Predigttext für den heutigen Sonntag. Es heißt dort:
Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, der hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, damit, wer davon isst, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt.
Ein Text, liebe Gemeinde, der auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu verstehen ist. Er steckt voller großer Aussagen über Jesus und sein Kommen in die Welt, die man erst einmal entschlüsseln muss. Was soll es bedeuten, dass Jesus „das lebendige Brot“ ist, „das vom Himmel gekommen ist“? Was soll der Hinweis auf das Manna in der Wüste? Und schließlich: Warum redet Jesus am Ende des Textes auf einmal von seinem „Fleisch für das Leben der Welt“?
Die großen Bilder, die das Johannesevangelium für Jesus verwendet – Licht, Brot, Hirte, Weinstock – sind Konzentrate der Überzeugung, dass wir nur im Glauben an Gott und Jesus Christus wahres Leben finden. Wie aber kann das gehen, mitten in einer Welt, die voll ist von anderen Maßstäben und Überzeugungen, von Ablenkungen und Anfechtungen? Diese Frage stellte sich schon am Anfang des Christentums in drängender Weise. Das Christentum entstand im Judentum und es etablierte sich in einer Welt, in der der Glaube an die vielen griechischen und römischen Götter gängig und verbreitet war. Der Glaube an den einen Gott, der durch Jesus Christus sichtbar geworden ist, musste in dieser Welt zur Geltung gebracht werden. Das war eine große Herausforderung.
Die Frage, wie wir den Glauben an Jesus Christus verstehen und ihn bezeugen, stellt sich für uns heute in nicht weniger dringlicher Weise. Wir blicken zwar inzwischen auf eine lange Geschichte zurück, in der sich das Christentum in vielen Teilen der Erde verbreitet hat. Aber auch wir erleben immer wieder, dass vielfältige Werte und Überzeugungen das Leben und Handeln der Menschen bestimmen, wir erleben bei uns selbst, dass wir uns ablenken lassen von der Konzentration auf Jesus Christus, der das wahre Leben in die Welt gebracht hat.
Unsere gegenwärtige Situation ist eine solche Herausforderung. Wir erleben gerade, wie sich die Welt neu sortiert. Werte und Ordnungen, die in den meisten Ländern Europas und den USA lange Zeit galten und unserem Leben einen verlässlichen Rahmen gaben, werden auf den Prüfstand gestellt. Freiheit und Demokratie, die in dem, was in der Nachkriegsordnung als „der Westen“ bezeichnet wurde, die Leitkategorien waren, geraten gegenwärtig in ebenso atemberaubender wie erschreckender Weise unter die Räder.
Was diese Veränderungen bedeuten, können wir im Moment noch nicht absehen und uns auch nicht so recht vorstellen. Europa, Deutschland, vor allem Ostdeutschland, hat vor 35 Jahren schon einmal eine radikale Umbruchszeit erlebt. Aber das, was derzeit geschieht, geht darüber weit hinaus. Hoffen wir, dass die europäischen Länder den Mut und die Kraft aufbringen, dem zu widerstehen und sich an dem auszurichten, was einmal im besten Sinne als „das christliche Abendland“ bezeichnet wurde.
Unser Glaube ist in einer solchen Umbruchszeit herausgefordert. Wir müssen uns darüber klar werden, was es bedeutet, in der Welt, die wir gegenwärtig erleben, glaubwürdig Christen zu sein. Was sind die Maßstäbe, an denen wir uns orientieren? Was sind die Überzeugungen, an denen wir auch dann festhalten, wenn sich die Lebensumstände und die Bedingungen radikal verändern? Noch wissen wir nicht, wohin all das führen wird, was sich derzeit an Umbrüchen ereignet. Aber dass es Veränderungen mit sich bringen wird, auch in unseren Ländern, ist unausweichlich. Gerade in einer solchen Situation müssen wir uns darauf besinnen, was die Grundlage unseres Lebens ist, worauf wir uns verlassen, worauf wir vertrauen, was uns auch in unübersichtlichen Zeiten trägt.
Glaube an Jesus bedeutet ewiges Leben. So heißt es im ersten Satz des Predigttextes für diesen Sonntag. Ewiges Leben – das bedeutet: unsere irdische Existenz ist mehr als das, was wir in unserem irdischen Dasein tun und erfahren. Ewiges Leben heißt: Wir haben unser Leben von Gott bekommen und es führt wieder zu ihm zurück. Alles, was wir tun, gehört in diesen großen Zusammenhang, der hinausreicht über unser Hier und, der größer ist als alles, was wir mit unserem Verstand erfassen können. Das lässt sich mit Worten nur annäherungsweise und unzureichend beschreiben. „Ewiges Leben“ – das soll uns vor Augen stellen, dass unser Dasein mehr ist als materielles Wohlergehen, dass es tiefer reicht als die Befriedigung unserer Bedürfnisse. Die Vorstellung „ewig“ zu leben, geht weit darüber hinaus, was wir denken können, denn unsere Vorstellungskraft ist immer an Raum und Zeit gebunden. „Ewig“ ist darum keine Kategorie, die unser begrenztes Leben einfach ins Unendliche verlängern soll. „Ewig“ meint vielmehr eine andere, eine größere Qualität. Das ist auch gemeint, wenn die Bibel von „Auferstehung“ und „neuer Schöpfung“ spricht. Es bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass unser irdisches Leben mit dem physischen Tod nicht einfach vorbei ist. Dass es mehr gibt als das, was wir mit unseren Sinnen erfahren und mit unserem Verstand begreifen können.
Betrachten wir unser Leben in dieser Weise, ist es nicht einfach egal, woran wir uns ausrichten, was die leitenden Wertmaßstäbe unseres Tuns sind. „Ewiges Leben“ meint verantwortliches Leben – verantwortlich vor mir selbst und vor denen, mit denen ich zusammenlebe, verantwortlich vor der Schöpfung, die uns anvertraut ist, verantwortlich vor Gott, dem Ursprung und Ziel unseres Lebens. Es ist nicht zuträglich, wenn wir unser Leben daran orientieren, wovon wir selbst den größten Vorteil haben, uns aber gleichgültig ist, was es für andere Menschen und für die Natur bedeutet.
Ein solches Leben bedeutet, darauf zu vertrauen, dass Gottes Macht weiter reicht als diejenige von uns Menschen; dass er die Welt erschaffen hat und sie erhält; dass er das Heil von uns Menschen will. Diese Überzeugung hat Jesus in die Welt gebracht, darum nennt er sich in unserem Predigttext „das Brot des Lebens“. Ein Brot, das anders ist als das Manna, das die Israeliten in der Wüste gegessen haben. Dieses Manna war auch eine Gabe Gottes, aber es war eine vergängliche Speise. Sie hat nicht vor dem Tod bewahren können, so wie es auch die Speisen nicht können, die wir täglich zu uns nehmen. Wenn wir unser Leben aber so verstehen, dass es nicht auf das Irdische und Vergängliche beschränkt ist, wenn wir es als Gabe Gottes begreifen, den Jesus uns nahegebracht hat, verstehen wir es in anderer, in rechter Weise.
Das „Brot des Lebens“ ist eine unvergängliche Speise. Aber auch dieses Brot kann man buchstäblich „essen“. So heißt es kurz nach den Versen, die wir vorhin gehört haben: Jesu Fleisch und Blut sollen wir essen und trinken. Eine merkwürdige Vorstellung, eine drastische Ausdrucksweise. Worauf der Text damit anspielt, ist die eucharistische Speise, das Abendmahl. Auch heute im Gottesdienst werden wir das Abendmahl feiern. Der Predigttext bringt konzentriert zum Ausdruck, worum es bei diesem Mahl geht: Wir verbinden uns im Mahl der christlichen Gemeinde untereinander und mit Jesus Christus. Wir sagen Gott Dank – „Eucharistie“ heißt „Danksagung“ –, dass er uns in Jesus Christus das ewige Leben geschenkt hat und wir bekommen im Mahl Anteil am ewigen Leben. Das Abendmahl ist darum nicht nur einfach ein Ritual. Es ist die Verbindung mit Gott selbst, dem Ursprung und Ziel des Lebens, die wir in diesem Mahl feiern und immer wieder erneuern. Unser Predigttext ist darum ein vorösterlicher Freudentext. Er spricht vom ewigen Leben, das vor dem Tod bewahrt. Und er ist ein Abendmahlstext. Er lädt uns ein, uns mit Jesu Fleisch und Blut zu verbinden und so Anteil am ewigen Leben zu erhalten.
Wenn Jesus am Ende unseres Textes nicht mehr von sich selbst als dem „Brot des Lebens“, sondern von seinem „Fleisch für das Leben der Welt“ spricht, wird deutlich, dass seine Hingabe neues Leben bedeutet. Wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt und gerade so neues Leben hervorbringt, so ist es auch mit dem Tod Jesu. Sein Kommen in unsere Welt hat Gottes Liebe, Gottes Licht, Gottes Wahrheit in das Dunkel der Welt gebracht. Seither sind wir nicht mehr gefangen in der Begrenztheit dessen, was wir aus uns selbst heraus vermögen. Unser Leben ist auf einen neuen Grund gestellt. Der Tod Jesu hat das ermöglicht, denn er hat unsere Schuld und unser Versagen, all das, was uns von Gott trennt, beseitigt. „Das Lamm Gottes trägt die Sünde der Welt“, so sagt es Johannes der Täufer am Beginn des Johannesevangeliums. Jesus hat die Sünde der Welt davongetragen, seither steht sie nicht mehr zwischen Gott und uns. Daraus dürfen wir leben. Dafür dürfen wir Gott danken. Und dessen dürfen wir uns immer wieder vergewissern, wenn wir gemeinsam das Mahl feiern, das uns am ewigen Leben Anteil haben lässt. Amen.