Liebe Gemeinde,

es gibt drei Arten von Karfreitagspredigten.

Die eine betont das große Leiden und den bitteren Tod Jesu, zeichnet seine Qualen in drastischen Darstellungen nach und betont, dass Jesus das alles stellvertretend für uns erlitten hat. Dieser Weg ist theologisch vollkommen richtig, aber er birgt die Gefahr, dass dem Menschen allzu oberflächlich ein schlechtes Gewissen gemacht wird, das über den Karfreitag hinaus bleibt und einen „protestantischen“ Schatten auf das ganze Christenleben legt.

Sünde und Schuld, die tiefe – und für uns auch immer wieder spürbare – Verlorenheit unseres Lebens: Das alles sind ernste und wichtige Themen. Aber sie erscheinen unseren Zeitgenossen oft finster, alt und fern.

 

Die zweite Art der Karfreitagspredigt kommt moderner daher. Sie zeichnet in großem Rundumblick das gegenwärtige Leid in der Welt, spricht von sozialer Ungerechtigkeit, Flucht und Gewalt. Das Leiden Jesu am Kreuz kommt dabei nur noch als ein exemplarisches Leiden von vielen anderen zum Ausdruck. So sehr man im Kreuz Jesu auch Gottes Solidarität mit allen leidenden Kreaturen sehen kann, so gefährlich und unzureichend ist es doch, Jesu Tod nur als einen Tod von vielen ungerecht Sterbenden zu verstehen.

 

Die dritte Form der Karfreitagspredigt stellt die Kreuzigung Jesu als großes Mysterium dar. Diese Form erscheint vielleicht als die intellektuellste Weise der Karfreitagspredigt. Man kann eigentlich gar nicht ganz erfassen, was da am Kreuz geschehen ist, höre ich manche sagen. Wir können nur staunen und schweigen vor dem großen Wunder, dass da auf Golgatha geschehen ist. Der Gekreuzigte ist eigentlich schon der Auferstandene. Wir müssen alles von Ostern her sehen. Damit verliert das bittere Leiden Jesu auch viel von seiner finsteren Radikalität, die man nicht einfach überspringen kann.

 

Drei Formen von Karfreitagspredigt. Jede davon hat ihren wahren und guten Kern. Jede hat aber auch ihre Tendenzen und Gefahren.

Wie soll nun meine Predigt heute aussehen? Mit meiner kritischen (und holzschnittartigen!) Analyse habe ich die Erwartungen und den Anspruch an mich selbst ja ordentlich hochgeschraubt.

Das Beste, liebe Gemeinde, wäre der Königsweg. Das Beste wäre, aus allen Typen das Richtige aufzunehmen, das Gefährliche wegzulassen und so auf direktem Wege zur Schlussaussage zu kommen. Das wäre der Königsweg. Durch alle Gefahren und Tendenzen und Hindernisse hindurch. Alles Gute aufnehmen und alles Schlechte weglassen. Mit klarer Blickrichtung auf das Ziel zugehen, keine Zeit verlieren und keine Schwäche zeigen.

Das wäre der Königsweg.

Nicht nur für eine Predigt, sondern für unser ganzes Leben.

Bei schweren Fragen die richtige Entscheidung treffen. Bei Angriffen von außen stark bleiben. Bei Manipulationsversuchen einen klaren Blick behalten. Bei der Lebensplanung keine Umwege machen, sondern immer auf klarem Kurs bleiben.

Das wäre der Königsweg.

In der Politik: Auf alle Parteien und Bevölkerungsgruppen hören und doch einen klaren Kurs in der Mitte zu halten, damit alle im Boot bleiben.

In der Handelspolitik bereit sein zu verhandeln, aber doch eigene Stärke und Rückgrat zeigen. Das wäre der Königsweg.

 

Der Königsweg steht sprichwörtlich für einen ausgewogenen, geraden, direkten Weg zum Ziel.

Der Königsweg wurde in der Geschichte auch immer wieder ganz praktisch verwirklicht, indem man für große Herrscher eigene gerade, direkte und bequeme Straßen durch ihr Reich gebaut hat.

Eine solche Via regis, einen solchen Königsweg durfte dann natürlich nur der Herrscher selbst beschreiten.

Unser Herr Jesus Christus beschritt an seinem letzten Tag keine hoheitliche Via regis, sondern die Via dolorosa. Er ging keinen für ihn reservierten Sonderweg, sondern den Weg der Schmerzen durch die quirligen Straßen Jerusalems hinaus vor das Stadttor. Kein gerader Weg, kein ausgewogener Weg, kein ruhiger Weg, sondern ein bitterer Weg durch die pöbelnde Masse, durch die Reihen brutaler Soldaten und über den ganzen Dreck einer Großstadt. Am Ende dieses grausam inszenierten Weges steht ein fatales Ziel: Golgatha, die Schädelstätte, der Zusammenbruch des Lebens und der Ideale.

Das alles ist das Gegenteil eines Königswegs.

Jesus hat offenbar alles falsch gemacht. Keine sinnvollen Kompromisse, kein Netzwerk hilfreicher Personen, kein cleveres Ausweichen, wenn es gefährlich wird. Er scheint naiv oder verbohrt genau in die Falle getreten zu sein, die sie ihm stellten.

Der Königsweg sieht anders aus.

Nun ist es aber die Besonderheit der Johannesevangelisten, dass er den letzten Weg Jesu eben als Weg des Königs darstellt.

Jesus geht direkt auf mit klarem Blick auf sein Ende zu.

Jesus lässt sich nicht erst von Judas zeigen, sondern sagt selbst zu den Soldaten „Ich bin es.“.

Pilatus nennt ihn vor den Juden König.

Die Soldaten krönen ihn mit der Dornenkrone und legen ihm einen Königsmantel um.

Jesus trägt sein Kreuz souverän durch die Gassen.

Über seinem Haupt steht für alle lesbar: Jesus von Nazareth, König der Juden.

Wie ein weiser Herrscher auf dem Thron, regelt Jesus vom Kreuz herab die Belange seines Reiches und übergibt seine Mutter Maria in die Obhut des Jüngers.

Am Ende steht nicht die Verzweiflung, sondern die Erfüllung der göttlichen Mission: „Es ist vollbracht.“

Johannes wagt es, den Gang in den Tod als Königsweg darzustellen.

Die Via dolorosa wird zur Via regis.

Den grausamen Weg in den Tod als siegreichen Weg des Königs darzustellen, kann man das überhaupt machen?

Ist das nicht eine verrückte Umdeutung der Fakten?

 

Liebe Gemeinde,

nicht der Evangelist Johannes deutet das Leiden Jesu um,

sondern diese Kreuzigung des Gottessohns deutet unser Leben um!

Nicht, wer am lautesten rumpöbelt, hat Recht.

Nicht, wer am Drücker sitzt und die meisten Soldaten hat, bestimmt die Weltgeschichte.

Nicht, wer am grausamsten zuschlägt, ist der Boss im Revier.

Der wahre Herrscher ist das Opfer dieser Ahnungslosen.

Und damit stehen alle Opfer pervertierter menschlicher Macht auf der Seite dieses Königs.

Der wahre König thront nicht im Palast zwischen Dienern und Mätressen; der wahre König blutet am Kreuz zwischen Verbrechern und Ganoven.

Der wahre Gott der Welt sitzt nicht im Himmel und schaut auf die Menschen nieder.

Der wahre Gott blutet mitten drin im Todeskampf der Menschen,

in der Grausamkeit von Golgatha.

Gerade so erweist er sich als König:

Dass er dabei ist an vorderster Front, dass er da mitkämpft, wo es wehtut,

dass er für sein Volk einsteht, wo die Perversion der Sünde triumphiert.

Und Johannes hat verstanden:

Das ist der wahre König.

Und sein Schicksal ist der wahre Königsweg.

Sein Weg ist nicht der einfachste, leichteste, kürzeste und bequemste.

Was wäre denn damit für die Welt gewonnen?

Nein, sein Weg ist der ehrliche, der konsequente, der kompromisslose, der bedingungslose.

Sein Weg ist der Weg, den keiner mit uns geht, weil er bis in den Tod hineinführt und durch ihn hindurch.

Für Gottes Sohn gab es keine Abkürzung, keine Direktverbindung zum Himmel, aus dem er kam, sondern den finsteren Weg, den jeder von uns gehen muss.

Der Königsweg ist für Jesus keine Parade auf einer Prachtstraße, sondern ein Eroberungszug im Reich der Sünde. Er will nicht für sich selbst brillieren, sondern er will Menschen aus der Macht des Bösen herausreißen und mitnehmen.

Das ist der wahre Sieg, der die Welt überwunden hat.

Das ist der Weg, der zum Himmel oder besser: zu Gott zurückführt.

Das ist der wahre Königsweg.

 

Und wir?

Und wir, die wir so gerne aufrecht und zielsicher durchs Leben gehen würden?

Wie sieht nun unser Königsweg aus?

Sollen wir, können wir von Jesus lernen?

Sollen wir ihm auf seinem Leidensweg nachgehen?

Sollen wir sein Leiden nachahmen?

Viele Christen haben das versucht. Manche als Mystiker, manche ganz konkret wie Franz von Assisi.

Viele Christen sehen den Königsweg, wenn nicht im körperlichen Leiden, dann doch in moralischer Anstrengung und harter Disziplin. Sei hart zu dir selbst, nimm Leiden in Kauf, lass dich nicht von deiner Bahn abbringen! Durch eigene Mühe schaffst du es ganz nach oben. Auch in den Himmel.

Per aspera ad astra. Eine selbst auferlegte Via dolorosa. Ist das unser Königsweg?

Ist das der Weg, den Jesus uns weist?

 

Liebe Freunde,

Nachfolge heißt nicht Nachmachen.

Wir können Jesus nicht kopieren.

Wir können es nicht einfach machen wie Jesus.

Jesu Tod und Jesus Weg waren und sind einmalig und einzigartig.

Diesen Weg und die Wahrheit und das Leben gibt es nur einmal.

Nachfolge heißt nicht Nachmachen.

Nachfolge heißt, durch die offene Türe gehen, die uns Jesus am Kreuz aufgestoßen hat.

Nachfolge bedeutet nicht, eigenes Leiden zu suchen oder sich gar selbst zuzufügen. Nachfolge bedeutet nicht, Leiden zu verharmlosen oder zu verklären – nach dem Motto „Jesus hat ja auch gelitten“.

Nachfolge Jesu heißt aber, Leid nicht aus dem Weg zu gehen, Leid nicht zu fürchten, Leid nicht das letzte Wort zu lassen.

Nachfolge heißt, trotz Hindernissen, Umwegen und Stürzen auf dem eigenen Lebensweg weiterzugehen, auch wenn es nur mühsam und hinkend geht.

Nachfolge heißt, nicht die Richtung zu wechseln und nicht das Ziel zu verlieren. Beides ist Jesus: Richtung und Ziel und Begleitung und Schutz.

Der Johannesevangelist stellt es uns vor Augen.

Jesus trägt sein Kreuz, damit wir hintergehen können.

Er trägt die Last, die wir niemals tragen könnten.

Er zahlt die Rechnung, die wir niemals bezahlen könnten.

Er gleicht das aus, was wir niemals wiedergutmachen könnten.

Das ist der Königsweg, den er geht, mitten hindurch durch die Bosheit und Schuld dieser Welt. Sein Kreuz schlägt eine Bresche durch alles, was uns von Gott trennt und runterzieht und vor dem Kopf stößt.

Und wir, wir müssen ihm nur nachlaufen.

 

Liebe Geschwister,

das ist kein Königsweg im herkömmlichen Sinn. Das ist kein privilegierter Weg für die Besseren, keine Abkürzung für die Cleveren, keine Umgehung aller Konflikte.

Wir werden weiterhin stolpern, fragen, zögern und zweifeln und manchmal auch zusammenbrechen.

Aber solange uns dieser König vorangeht, wird unser Weg ein guter sein, weil er ans Ziel führt.

Wenn Jesus am Kreuz die Augen schließt, dann ist er nicht gescheitert, sondern dann ist alles vollbracht.

Wenn Jesus tot ins Grab sinkt, dann ist nicht alles vorbei, sondern dann fängt alles erst an: Der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Amen.

Karfreitag – Pfr. Dr. Jonas