Liebe Gemeinde,
die Predigt soll uns heute eine Geschichte vor Augen stellen, die uns einigermaßen fern ist. Erstens spielt sie vor langer, langer Zeit:
In der Zeit, als das Volk Israel aus Ägypten aufgebrochen war und den Weg ins Gelobte Land eingeschlagen hatte. Das Rote Meer war längst durchzogen, das himmlische Manna gegessen, der Tanz ums Goldene Kalb getanzt, die Gebote vom Sinai empfangen, und Mose, der treuer Diener Gottes, war bereits gestorben.
Josua war sein Nachfolger. Er hatte die Aufgabe, Israel vollends ins verheißene Land zu führen. Aber was heißt hier „führen“?
Das Gelobte Land war keinesfalls menschenleer und wartete nur auf den Bezug durch die neuen Bewohner. Das Land Kanaan war von verschiedenen Völkern und Stadtbewohnern besiedelt. Israel musste gegen sie kämpfen und sich sein Gelobtes Land erobern. Es war kein Geschenk, das vom Himmel fiel. Und so lesen wir von heftigen und grausamen Kämpfen, in denen Israel Stadt um Stadt, König und König seinen Weg freikämpfte.
Die detaillierten Erzählungen von diesen Kämpfen sind uns heute nicht nur wegen ihres Alters fern, sondern auch wegen ihrer wenig zimperlichen Kriegsdarstellung.
Sie kennen vielleicht die Episode von der Eroberung der alten Stadt Jericho, deren Mauern einstürzten, als Israels Posaunen erklangen (Jos 6).
Doch bevor Jericho eingenommen wurde, sind von Josua Spione in diese Stadt geschickt worden. Diese zwei Männer stellten sich nicht gerade geschickt an, sodass der König von Jericho sie gleich aufspürt. Er wäre ihnen an den Kragen gegangen, wenn nicht eine Frau ihnen das Leben gerettet hätte. Diese Frau ist die einzige Person, die in der Geschichte einen Namen hat: Sie heißt Rahab. Sie betrieb ein zwielichtiges Etablissement am Stadtrand von Jericho. Wir würden heute sagen: ein Bordell. Und ausgerechnet dort steigen die beiden Spione Israels ab. Rahab ist die wahre Heldin der Geschichte, den sie rettet den beiden Fremden das Leben – nicht ohne sich von ihnen die Garantie geben zu lassen, bei der kommenden Eroberung der Stadt verschont zu werden.
Hören wir nun auf den originalen Wortlaut der Geschichte aus dem 2. Kapitel des Josuabuches und achten wir auf die hebräische Erzählkunst und den subtilen Humor dieser Episode, die zum Lachen wäre, wenn sie nicht so ernst wäre.
Josua 2, 1-21
Josua aber, der Sohn Nuns, sandte von Schittim zwei Männer heimlich als Kundschafter aus und sagte ihnen: Geht hin, seht das Land an, auch Jericho. Die gingen hin und kamen in das Haus einer Hure, die hieß Rahab, und kehrten dort ein.
Da wurde dem König von Jericho angesagt: Siehe, es sind in dieser Nacht Männer von den Israeliten hereingekommen, um das Land zu erkunden.
Da sandte der König von Jericho zu Rahab und ließ ihr sagen:
Gib die Männer heraus, die zu dir in dein Haus gekommen sind; denn sie sind gekommen, um das ganze Land zu erkunden.
Aber die Frau nahm die beiden Männer und verbarg sie. Und sie sprach: Ja, es sind Männer zu mir hereingekommen, aber ich wusste nicht, woher sie waren. Und als man das Stadttor schließen wollte, da es finster wurde, gingen die Männer hinaus, und ich weiß nicht, wo sie hingegangen sind. Jagt ihnen eilends nach, dann werdet ihr sie ergreifen.
Sie aber hatte sie auf das Dach steigen lassen und unter den Flachsstängeln versteckt, die sie auf dem Dach ausgebreitet hatte. Die Verfolger aber jagten ihnen nach auf dem Wege zum Jordan bis an die Furten, und man schloss das Tor zu, als sie draußen waren.
Und ehe die Männer sich schlafen legten, stieg Rahab zu ihnen hinauf auf das Dach und sprach zu ihnen:
Ich weiß, dass der Herr euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden.
Denn wir haben gehört, wie der Herr das Wasser im Schilfmeer ausgetrocknet hat vor euch her, als ihr aus Ägypten zogt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter, Sihon und Og, jenseits des Jordans getan habt, wie ihr an ihnen den Bann vollstreckt habt.
Und seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt und es wagt keiner mehr, vor euch zu atmen; denn der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden.
So schwört mir nun bei dem Herrn, weil ich an euch Barmherzigkeit getan habe, dass auch ihr an meines Vaters Hause Barmherzigkeit tut, und gebt mir ein sicheres Zeichen, dass ihr leben lasst meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwestern und alles, was sie haben, und uns vom Tode errettet.
Die Männer sprachen zu ihr: Tun wir nicht Barmherzigkeit und Treue an dir, wenn uns der Herr das Land gibt, so wollen wir selbst des Todes sein, sofern du unsere Sache nicht verrätst.
Da ließ Rahab sie an einem Seil durchs Fenster hinab; denn ihr Haus war an der Stadtmauer, und sie wohnte an der Mauer.
Und sie sprach zu ihnen: Geht auf das Gebirge, dass eure Verfolger euch nicht begegnen, und verbergt euch dort drei Tage, bis zurückkommen, die euch nachjagen; danach geht eures Weges.
Die Männer aber sprachen zu ihr: So wollen wir den Eid einlösen, den du uns hast schwören lassen: Wenn wir ins Land kommen, so sollst du dies rote Seil in das Fenster knüpfen, durch das du uns herabgelassen hast, und zu dir ins Haus versammeln deinen Vater, deine Mutter, deine Brüder und deines Vaters ganzes Haus. So soll es sein: Wer zur Tür deines Hauses herausgeht, dessen Blut komme über sein Haupt, aber wir seien unschuldig; doch das Blut aller, die in deinem Hause bleiben, soll über unser Haupt kommen, wenn Hand an sie gelegt wird.
Und wenn du etwas von dieser unserer Sache verrätst, so sind wir frei von dem Eid, den du uns hast schwören lassen.
Sie sprach: Es sei, wie ihr sagt!, und ließ sie gehen. Und sie gingen weg. Und sie knüpfte das rote Seil ins Fenster [und wurde später bei der Eroberung Jerichos verschont.]
Liebe Gemeinde,
diese Geschichte ist uns fern wegen ihres Alters, wegen ihres gewaltverherrlichenden Kontexts, aber wohl auch wegen ihrer moralischen Fragwürdigkeit. Die Heldin ist eine Prostituierte, dazu eine verschlagene Person, die lügt, ohne mit der Wimper zu zucken, die clever ihr eigenes Schicksal sichert, während sie ihr eigenes Volk verrät. Ihr Gegenüber sind zwei israelitische Spione, deren erste Anlaufstelle bei der Erkundung Jerichos ein Freudenhaus war, was viel über die Selbstdisziplin dieser beiden Herren der Schöpfung erkennen lässt. Die beiden sind dazu noch so unbeholfen, dass sie nur durch die List und die Klugheit der fremden Frau wieder heil aus Jericho herauskommen.
Das alles wäre der Stoff für einen zweitklassigen Kinofilm oder einen erotisch aufgeladenen Roman, aber das ist nicht der Stoff, den wir in der Heiligen Schrift und hier auf der Kanzel erwarten!
Die Kirche ist für die meisten Menschen eine Moralanstalt. Hier werden Werte gepflegt und Anstand gewahrt. Hier begegnen einem Menschen, die ihr Leben in Ordnung halten und Sünden vermeiden.
Wenn Menschen noch etwas von der Kirche erwarten, dann ist es Moral. Wenn der Staat irgendein Interesse am Wirken der Kirche hat, dann ist es ihr positives Einwirken auf die Menschen und ihr Verhalten.
Eine Kirche verhindert mehr Verbrechen als 100 Polizisten, sollen die preußischen Könige einmal gesagt haben. „Also stellt lieber einen Pfarrer an als 100 Polizisten. Das ist auch billiger.“
Gerade der deutsche Protestantismus in Preußen und darüber hinaus scheint evangelischen Glauben und bürgerliche Moral über Jahrhunderte gleichgesetzt zu haben. Glaube, so ist auch heute oft von Protestanten zu hören, drückt sich dadurch aus, dass man ein anständiger Bürger ist.
„Lieber Herr Pfarrer, ich trinke nicht und stehle nicht. Ich bin immer ein guter Mensch gewesen. Dann war ich doch auch ein guter Christ!“ Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich das von älteren Menschen gehört habe.
Es ist die Moralität, die den Protestantismus ausmacht. Und da haben sich preußische Tugenden ganz unbemerkt mit biblischen Idealen vermischt. Pünktlichkeit und Fleiß, Ehrlichkeit und Tapferkeit, Heldenmut und Selbstdisziplin. Ich möchte gar nicht wissen, in wie vielen Predigten diese Wert beschworen wurden.
Und auch heute hören wir von der evangelischen Kirche überwiegend Verhaltensregeln: Wie wir konsumieren sollen, wie schnell wir auf der Autobahn fahren sollen, wie wir sprechen sollen.
Es scheint der evangelischen Kirche oft leichter zu fallen, über Moral zu sprechen als über den lebendigen Gott.
Ich will diese moralischen Werte gar nicht in Zweifel ziehen. Nicht die alten – und heute viel belächelten – preußischen und noch viel weniger die aktuellen zum Umgang mit der Schöpfung, zum sensiblen Umgang mit anderen Menschen und zu einer ehrlichen und zugleich respektvollen Kommunikation.
Aber wenn wir allein diese Werteskala anlegen, und wenn wir allein auf die Moral schauen, dann steht unser heutiger Bibeltext völlig quer dazu.
Warum steht so eine unmoralische Geschichte überhaupt in der Bibel?
Und warum muss sie dann ausgerechnet noch als Predigttext auf die Kanzel?
Das ist die Provokation, die uns heute herausfordern soll. Das ist der Impuls, der uns verstehen lassen soll, dass Glaube und Moral nicht identisch sind. Das soll uns verunsichern, wenn wir meinen als „anständige Menschen“ schon genug für den lieben Gott zu tun.
Wenn mit Rahab eine Frau, eine Fremde, und dazu noch eine Prostituierte als Heldin erscheint, dann zeigt sich hier einmal mehr die moral-durchbrechende Kraft der Bibel, die Klischees und gesellschaftlich Normen durchbricht und schon immer durchbrochen hat.
Der Kleinste wird König, der Schwächere siegt, die Jungfrau wird schwanger, der Gekreuzigte steht auf.
Der biblische Glaube ist keine einfache Bestätigung und Zementierung gesellschaftlicher Normen, sondern deren dauerhafte Infragestellung.
Und schon insofern ist Marxens Rede vom „Opium für das Volk“ vollkommen falsch.
Der biblische Glaube sperrt die Armen nicht aus, sondern baut mit ihnen Geschichte. Er sperrte die Frauen nicht hinter den Herd, sondern macht sie zu Heldinnen – gerade da, wo vermeintlich starke Männer versagen. Er stürzt die Gewaltigen vom Thron und lässt die Reichen leer ausgehen. Er stellt die Hure nicht vor die Stadtmauer, sondern lässt sie zur Retterin werden.
Wer vom Glauben nur erwartet, dass er bürgerliche Normen absichert, unterschätzt ihn gewaltig.
Wer den Glauben mit Moral gleichsetzt, verkennt die Botschaft genauso wie die Entdeckung Martin Luthers.
Glaube ist keine Moral, sondern das Entdecken, dass Gott mit mir unmoralischen, fehlerhaften und überaus zweifelhaften Gesellen am Werk ist und etwas Gutes vorhat.
Die Geschichte von Rahab sagt an keiner Stelle, dass Prostitution gut sei. Aber sie lässt erkennen, dass Gott mit dieser vollkommen zweifelhaften Person etwas vorhat.
Aus heutiger Sicht stört uns wahrscheinlich an Rahab am meisten ihre Tätigkeit und ihre berechnende Lüge, mit der sie opportunistisch zu den zukünftigen Siegern überläuft. Ehrlichkeit und Treue sehen anders aus.
Aus der Sicht des alten Israels war es aber vor allem ihre Abstammung, die störte. Sie war eine Heidin. Sie war ausgeschlossen von den Verheißungen Israels. Der Skandal liegt darin, dass Gott gerade durch diese Frau Israels Geschick zum Guten wenden – so wie übrigens auch durch die Heidin Ruth, oder wie Jesus die kanaanäische Frau heilt.
Es scheint nicht Anstand und Moral zu sein, die uns vor Gott auszeichnet, und auch nicht Abstammung oder Geschlecht.
Aber was ist es dann?
Es ist der Glaube. Es ist der Glaube in seiner Reinform: Der Glaube als vertrauendes Greifen nach der Rettung:
Die kanaanäische Frau kennt die Krankheit ihrer Tochter und sie setzt alles auf die Karte Jesus und schreit hemmunglos: „Ach, Herr, Sohn Davids, erbarme dich meiner.“
Der Schächer am Kreuz erkennt in seiner Todesstunde seine Lage und ruft zu Jesus, der neben ihm hängt: Gedenk an mich, wenn du in dein Reich kommst“.
Die Hure Rahab erkennt ihre eigene Lage und glaubt an den Gott Israels von dessen großen Taten sie gehört hat. Sie bekennt: „Der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden.“
Es ist das Greifen nach Rettung, das hier Erfolg hat.
Es ist der Glaube, der unser Leben vor Gott auszeichnet.
Es ist der Glaube, der unseren manchmal recht zweifelhaften Leben eine Würde gibt.
Es ist der Glaube, der unsere manchmal sehr verschlungenen Wege zum Ziel führt.
Und deshalb sollte unsere Kirche immer erst eine Glaubensanstalt und keine Moralanstalt sein.
Ein Ort, an den sich nicht die Perfekten und die Reinen die Klinke in die Hand geben, sondern ein Ort, an dem sich Sünder versammeln und verändern lassen.
Der Gott Israels schrieb seine Geschichte mit Versagern und Verkannten.
Jesus umgab sich mit Sündern und Zöllnern.
Und wir wollen gleichzeitig eine Gemeinde der Perfekten sein oder eine Kirche, die der Welt zu sagen hat, wie man richtig lebt?
Hier ist mehr Demut gefragt. Und hier ist viel Barmherzigkeit zu erwarten – auch für uns, die wir oft selbst nicht die Helden unserer moralischen Autobiographien sind.
Rahab wird gerettet. Der Schächer am Kreuz kommt ins Paradies. Der kanaanäischen Frau wird geholfen.
Nicht einfach so – sondern weil sie ihre Lage erkennen und sich an die richtige Adresse wenden: Jesus.
Das ist Glaube. Für sie und für uns.
Das ist es, was eine Kirche auszeichnen soll. Und die moralische Wirkung, die kommt dann von ganz allein.
Vielleicht noch viel überzeugender, weil sie ehrlich ist.
Amen.