Matthäus 21, 1-11

Manchmal, liebe Gemeinde, wird man enttäuscht. Da hat man vielleicht gehofft, einen der wunderschönen Adventskränze zu ergattern, die die vielen fleißigen Menschen in den letzten Wochen hier gebunden und geschmückt haben – und dann waren sie schon ausverkauft oder man hat nicht den bekommen, den man eigentlich gerne gehabt hätte. Vielleicht hat der eine oder die andere auch gehofft, beim Adventsbasar, der wie in jedem Jahr wieder ein Höhepunkt im Leben unserer Gemeinde war, ein schönes Weihnachtsgeschenk zu finden und dann war doch nicht das dabei, was man sich vorgestellt hatte. Schade, eine Enttäuschung, aber eine, mit der man leben kann.

Vielleicht hat sich im zu Ende gehenden Jahr aber auch manches nicht erfüllt, was wir uns für unser eigenes Leben oder dasjenige der Menschen, die uns nahestehen, gewünscht haben. Manchmal kommen die Dinge ja anders als erwartet oder erhofft und das Leben nimmt eine unerwartete Wendung. Vielleicht haben manche von uns auch gehofft, im Jahr 2024 werde endlich wieder Frieden einkehren in Europa – und nun, am Beginn der Adventszeit, tobt der Krieg in der Ukraine mit unverminderter Härte, und es ist sogar noch ein weiterer schrecklicher Krieg im Nahen Osten dazu gekommen. Und manchmal wird man auch von Wahlen enttäuscht, deren Ergebnis man sich eigentlich anders gewünscht hätte. Auch das geht vermutlich manchen von uns so im Blick auf die letzten Monate. Enttäuschungen können wir nicht aus unserem Leben verbannen. Wichtig ist darum, wie wir mit ihnen umgehen, wie wir sie in unser Leben integrieren, vielleicht sogar Chancen und neue Perspektiven darin sehen.

Was aber haben Enttäuschungen mit dem Advent zu tun, der heute beginnt und in dem wir doch voller Hoffnung und Vorfreude auf Weihnachten zugehen, Hoffnung schöpfen wollen und Zuversicht für das neue Jahr? Diese Frage kommt Ihnen jetzt vielleicht in den Sinn – und diese Frage ist mehr als berechtigt. Sie führt uns unmittelbar zu unserem Predigttext für den heutigen ersten Sonntag im Advent, einem Text, der es auch mit Enttäuschungen zu tun hat und der uns auf ganz eigene Weise in die Adventszeit führt.

 

Dieser Text steht im Matthäusevangelium, wir haben ihn vorhin in der Evangeliumslesung schon gehört. Es ist die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem. Jesus zieht ein in die Heilige Stadt, das religiöse und politische Zentrum des jüdischen Volkes, damals wie heute. Und das tut er nicht einfach so, sondern es ist ein Aufsehen erregender, ein festlicher, ein geradezu programmatischer Einzug: Auf einem Esel reitet Jesus in Jerusalem ein und er stellt sich damit in die Tradition einer prophetischen Verheißung. Der Prophet Sacharja hat sie direkt an Zion, wie Jerusalem auch heißt, gerichtet. Er ruft die „Tochter Zion“ auf, sich zu freuen, weil ihr König kommen wird, der als sanftmütiger Herrscher auf einem Esel in die Stadt hineinreiten wird. Wir kennen diesen Text aus der Bibel und auch aus dem Adventslied „Tochter Zion, freue dich, sieh, dein König kommt zu dir“.

Zeichenhaft, programmatisch also zieht Jesus in Jerusalem ein. Mit seinem Kommen verbindet sich die Erfüllung der prophetischen Verheißung des neuen Herrschers, der sein Volk mit Gerechtigkeit und Sanftmut regieren wird. Was für eine Vision, in Zeiten, in denen wir ganz andere Erfahrungen mit Herrschern machen! Und auch zur Zeit Jesu und zur Zeit des Matthäusevangeliums haben die Menschen ganz andere Erfahrungen mit politischer Herrschaft gemacht. Gerechte, sanftmütige Herrscher waren es nicht, die ihr Land regiert haben, sondern Eroberer, denen die jüdischen Traditionen gleichgültig waren und die mit harter Hand und oft auch mit Gewalt ihre eigenen Vorstellungen durchsetzten.

Kein Wunder, dass die Menschen begeistert sind, froh und erwartungsvoll, als sie Jesus als den Herrscher kommen sehen, der ihnen endlich Frieden bringen soll. Darum bereiten ihm einen großartigen Empfang, legen ihre Kleider auf den Weg, als eine Art roten Teppich, schneiden Zweige von den Bäumen und legen sie dazu, damit Jesus tatsächlich als künftiger Herrscher in die Stadt einziehen kann. So viele Erwartungen, so große Hoffnungen setzen sie auf ihn.

 

Aber es kommt ganz anders. Der festliche Einzug Jesu ist nicht der Beginn seiner Friedensherrschaft als sanftmütiger König seines Volkes. Ganz im Gegenteil, die Erwartungen, die sich auf ihn richten, werden bitter enttäuscht. Das Kommen Jesu nach Jerusalem steht am Beginn derjenigen Ereignisse, die bald darauf zu seiner Verurteilung und Hinrichtung führen werden. Jesus wird auf eine ganz andere Weise zum König gekrönt, als die Menschen es erwartet hatten, die ihn so festlich empfangen haben: Eine Dornenkrone wird auf sein Haupt gedrückt, einen Purpurmantel hängen ihm die römischen Soldaten um, sie verspotten und erniedrigen ihn. Der so festlich empfangene Jesus wird ans Kreuz geschlagen, eine Inschrift wird angebracht: „Jesus von Nazareth, König der Juden“, damit kein Zweifel besteht: So wird es jedem ergehen, der sich anmaßt, König zu sein und die Herrschaft übernehmen zu wollen. So abrupt, so brutal endet die Karriere, die mit dem Einzug in Jerusalem so großartig begonnen hatte. Die Enttäuschung und das Entsetzen könnten nicht größer sein. Selbst seine engsten Anhänger waren geschockt und ergriffen panisch die Flucht. Wer wollte es ihnen verdenken?

Gehört der Predigttext also eigentlich in die Passionszeit und nicht an den Beginn des Advents? In der Tat, die Geschichte vom Einzug in Jerusalem wird auch am Palmsonntag, dem Sonntag vor Ostern, gelesen, in der Version aus dem Johannesevangelium. Aber am Beginn der Adventszeit?

 

Die Ankunft Jesu in der Welt, liebe Gemeinde, ist keine großartige Demonstration von Macht und Stärke. Das Kommen Jesu hat all die Herrscher dieser Welt und ihre oft gewalttätigen Mittel, sich durchzusetzen, nicht an ihr Ende gebracht. Das steht uns in diesen Zeiten sehr deutlich vor Augen. Kriege und Propaganda beherrschen das Weltgeschehen, Zerrissenheit kennzeichnet die Gesellschaften in vielen Ländern. Die Auseinandersetzungen über verschiedene Ansichten sind schriller geworden, unversöhnlicher, hemmungsloser. Anstand und Moral, Respekt und Toleranz bleiben oftmals auf der Strecke. Wer auf Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit setzt, wird enttäuscht. So muss es auch den Menschen in Jerusalem gegangen sein, als der, den sie so fürstlich begrüßt hatten, so brutal am Kreuz geendet war.

 

Und doch – die Erzählung vom Einzug in Jerusalem ist nicht nur ein Text für den Palmsonntag, sondern auch für den 1. Advent. Darin kommt eine tiefe Einsicht zum Ausdruck, die für unseren Glauben von grundlegender Bedeutung ist. Wir feiern Advent, jedes Jahr von Neuem, im Wissen darum, dass in der Welt vieles im Argen liegt; dass Vieles geschieht, was uns zutiefst beunruhigt. Wir feiern Advent gerade darum, weil wir das Kommen Jesu in unsere geschundene und friedlose Welt als Ermutigung, als Hoffnung und als Auftrag begreifen, uns einzusetzen für Frieden und Gerechtigkeit, für Freiheit und Würde. Weil wir darauf vertrauen, dass die brutale Hinrichtung Jesu am Kreuz nicht bedeutet, dass die Gewalt über die Friedfertigkeit gesiegt hat; dass die Mörder nicht über ihre Opfer triumphieren werden, dass Gottes gerechte Ordnung sich durchsetzen wird. Der Weg Jesu, der ihn nach Jerusalem und ans Kreuz geführt hat, war nicht sein Ende. Was mit der Erwartung von Gottes Frieden für diese Welt in der Adventszeit beginnt, endet nicht am Kreuz in Jerusalem, sondern am leeren Grab, mit den Erscheinungen des Auferstandenen und der Botschaft: Jesus ist nicht hier, Gott hat ihn auferweckt. Gott hat sich stärker erwiesen als der Tod; er hat Jesus eingesetzt in die himmlische Herrschaft. So ist er ein König auf ganz andere Weise, als es die Menschen in Jerusalem erwartet hatten, anders auch, als wir uns oftmals die Lösung der Probleme dieser Welt vorstellen können. Das gibt Hoffnung, Mut und Zuversicht, die oft beklagenswerten Zustände dieser Welt unter dem Vorzeichen von Gottes heilvoller Ordnung zu sehen, die er für uns bereithält und auf die wir zugehen.

 

Enttäuschte Hoffnungen sind darum nicht einfach eine Frustration darüber, dass die Dinge doch nicht so geworden sind, wie wir es uns gewünscht hatten. Enttäuschte Hoffnungen können uns vielmehr zu einer realistischen Wahrnehmung der Welt führen, die wir aus der Gewissheit unseres Glaubens heraus gestalten. Gott geht unerwartete Wege, eröffnet Möglichkeiten, die uns selbst nicht in den Sinn gekommen wären, zeigt uns Perspektiven in der vermeintlichen Ausweglosigkeit. Inmitten einer zerrissenen Welt erklingt so die Botschaft vom Frieden Gottes auf Erden. Diese Botschaft kommt nicht daher als ein gewaltiges Brausen, das alle Welt erschüttern würde. Sie erklingt vielmehr als kleines, unscheinbares Geläut, das seine Wirkung entfaltet bei denen, die auf Gott vertrauen und auf den Frieden, den er der Welt verheißen hat.

 

Die Botschaft, die uns jedes Jahr im Advent von Neuem zugesagt wird und die wir in der Welt ausrichten sollen, heißt darum: Die Zuwendung Gottes zu uns Menschen, die so viel Hoffnung in sich birgt, so viel Trost und Zuversicht, wird nirgendwo so konkret, so anschaulich, so fassbar wie in der Geburt Jesu. Fast zum Zerreißen gespannt ist der Kontrast zwischen der Ankündigung der Geburt des Königs über das Haus Jakob und dem Weg ans Kreuz, der mit dem Einzug Jesu in Jerusalem beginnt. Diese Spannung umfasst unser Leben, mit allem, was dazugehört, dem Schönen und dem Traurigen, den freudigen Erwartungen und den Enttäuschungen.

 

Die Adventsbotschaft lautet nicht, dass da einer kommt, der mit Macht und Stärke die Feinde besiegen und die Mächtigen vom Thron stürzen wird. Die Adventsbotschaft ist eine Revolution ganz anderer Art. Sie ist auf eine eigene Weise ent-täuschend. Sie befreit uns von falschen Erwartungen an die Herrscher dieser Welt und stellt ihnen die Liebe Gottes entgegen, die diese Welt tatsächlich wirksam und dauerhaft verändern kann. Die Adventsbotschaft bringt den Frieden zu uns, weil wir darauf vertrauen, dass Sanftmut und Barmherzigkeit die Welt verändern können. Dieser Friede wird nicht durch militärische Macht oder wirtschaftliche Dominanz errungen. Dieser Frieden kommt auf andere Weise: durch Freundlichkeit, Nachsicht, Erbarmen und Rücksichtnahme.

 

Die Geschichte vom Einzug in Jerusalem ist die Geschichte einer Ent-täuschung, eine Geschichte, die uns zeigt, dass es gut sein kann, wenn unsere Erwartungen nicht in Erfüllung gehen und unsere Vorstellungen durchkreuzt werden von Gottes Wegen für diese Welt.

 

In den Erzählungen von der Geburt Jesu und seinem Wirken wird das anschaulich. Ein kleines Kind wird geboren, in einer abgelegenen Provinz des Römischen Reiches. Gerade mit ihm verbindet sich eine große Verheißung: Er wird das Heil Gottes zu den Menschen bringen, sie aufrichten und ihnen neuen Mut geben. Er ist da für die von Krankheiten und Ängsten Geplagten, er widmet sein Leben den Einsamen und Bedrückten. Und die Menschen haben gespürt: So wird unser Leben neu, die Welt bekommt ein freundliches Antlitz. Er ist der Friedefürst, von dem die Propheten gesprochen haben. Er bringt uns neue Hoffnung und Zuversicht.

 

Gottes kommt nicht in eine heile Welt, sondern in eine Welt voller Spannungen. Das war nicht anders in Israel zur Zeit des Propheten Sacharja und seiner großen Verheißung für die Tochter Zion. Es war auch nicht anders zur Zeit der Geburt Jesu. Gerade darum ist die Adventsbotschaft vom gerechten und sanftmütigen Herrscher, den Gott selber sendet, so wichtig, damals wie heute. Sie weist uns den Weg zur Überwindung von Feindschaft und Aggression, von Angst und Mutlosigkeit. Sie zeigt uns, dass wir nicht gefangen sind darin, was uns in der Welt Sorge bereitet. Gott selber kommt zu uns in der Gestalt eines Kindes, klein und verletzlich, als Mensch zu uns Menschen. Er teilt unser Leben, bis hinein in Leid und Tod, lässt uns nicht allein in unserer Angst.

 

In der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem kommt die Adventsbotschaft darum auf eine ganz eigene, eine sehr tiefe Weise zum Ausdruck. Diese Erzählung, die eigentlich am Beginn der Passionsereignisse steht und nicht am Anfang der Erzählungen über die Geburt Jesu, ist gerade darum eine Hoffnungsgeschichte. Sie zeigt uns, dass der angekündigte Retter diese Welt auf eine ganz andere Weise verändern wird, als wir es erwarten und als es auch die Menschen seiner Zeit erwartet haben. „Siehe dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“, heißt der Wochenspruch aus dem Propheten Sacharja. Gott kommt zu uns als ein gerechter und sanftmütiger Herrscher, der unser Leben neu macht. Darauf dürfen wir vertrauen, daraus dürfen wir Hoffnung schöpfen, daran können wir uns aufrichten, jedes Jahr aufs Neue. Die Advents- und Weihnachtszeit ist die Zeit der Vergewisserung, dass Gott das Heil der Welt und von uns Menschen will. In dieser Zuversicht dürfen wir in die kommenden Wochen gehen. Amen.

1. Advent – Prof. Dr. Schröter