Römer 13,8-12
Der Predigttext für den heutigen 1. Advent, liebe Gemeinde, steht im Brief
des Paulus an die Christen in Rom. Wir können uns also hier in Rom direkt
angesprochen fühlen, obwohl Paulus natürlich andere Verhältnisse
voraussetzt als die, unter denen wir heute, fast 2000 Jahre später, leben.
Wenn wir diesen Text lesen, wird jedoch schnell deutlich, dass er nicht fern
ist von unserer Situation als Christen. Er könnte sogar direkt an uns
gerichtet sein. Paulus schreibt im 13. Kapitel des Römerbriefes:
8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander
liebt; denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn das [was
da gesagt ist]: „Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst
nicht stehlen; du sollst nicht begehren“, und was da sonst an Geboten ist,
wird in diesem Wort zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst.“ 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun
die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 11 Und das [tut], weil ihr die Zeit kennt,
dass schon die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, jetzt nämlich ist
unsere Rettung näher als [zu der Zeit], da wir gläubig wurden. 12 Die
Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns nun
ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts.
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Eine eindrückliche Beschreibung dessen, was wir als Christen tun, wie wir
leben sollen, wird uns hier vor Augen gestellt. Heute, am 1. Advent, zu
Beginn des neuen Kirchenjahres, werden wir sehr konkret darauf
hingewiesen, dass sich unser Christsein vor allem daran zeigt, wie wir
leben im Alltag dieser Welt, wie wir unseren Mitmenschen begegnen. Die
Liebe zu den anderen, so heißt es bei Paulus, soll unseren Umgang
miteinander prägen, sie soll das oberste Prinzip sein, dem wir alles andere
unterordnen. Alles, was in einzelnen Geboten ausgeführt wird – Paulus
zitiert dazu einige der zehn Gebote aus dem Alten Testament –, all das ist
zusammengefasst in dem einen Gebot der Nächstenliebe. Darum kann
Paulus sogar sagen, dass die Liebe die Erfüllung des Gesetzes ist. Was
Gott von uns erwartet, lässt sich so zusammenfassen: „Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst.“
Das klingt sehr einleuchtend und es ist auch nicht schwer, das zu
verstehen. Aber ist es auch einfach, danach zu leben? Den anderen, die
andere genauso zu achten, zu respektieren, ihm oder ihr mit Offenheit,
Zuneigung, Wohlwollen zu begegnen – so, wie wir auch selbst gerne von
den anderen behandelt werden wollen?
Der Teufel steckt bekanntlich meistens im Detail. In diesem Fall ist das
Detail, im Umgang miteinander auf Friedfertigkeit und Rücksicht zu achten.
Wie schaffen wir das, was kann uns dazu motivieren?
Eine sehr eindrückliche Auslegung unseres Predigttextes ist das Gedicht
von Jochen Klepper „Die Nacht ist vorgedrungen“. Klepper schrieb dieses
Gedicht im Dezember 1937, ein Jahr später wurde es von Johannes
Petzoldt vertont. Wir werden es nach der Predigt miteinander singen.
Klepper war an unserem heutigen Predigttext vor allem wichtig, wie die
Situation von uns Christen hier beschrieben wird. Sein Gedicht konzentriert
sich darum auf den zweiten Teil des Textes: Paulus beschreibt das Leben
der Christen hier mit dem Bild der vorgerückten Nacht, des nahen Tages,
um den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Heils zum Ausdruck zu
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bringen. Jochen Klepper bringt das in seinem Gedicht sehr eindrücklich zur
Sprache und verarbeitet dabei viele weitere Bezüge auf biblische Texte.
„Der Morgenstern“ bescheint die „Angst und Pein“ derer, die „zur Nacht
geweinet“ haben – das spielt auf die Bezeichnung „Morgenstern“ für
Christus in der Johannesoffenbarung und auf Psalm 30 an, wo von denen,
die „des Nachts geweint“ haben, die Rede ist. Weitere Anspielungen finden
sich in den Wendungen „dem alle Engel dienen“, Gottes „Sühne für sein
Recht“, der Hinweis auf den Stall, zu dem wir uns aufmachen sollen, dass
„Gott im Dunkel wohnen“ will, das er selbst erhellt hat, dass Gott sich „den
Erdkreis gebaut“ hat und dass der, der „hier dem Sohn vertraut“ hat, „dort
dem Gericht“ kommt.
Jochen Klepper hat unseren Predigttext also vor allem als einen Advents-
und Weihnachtstext verstanden. Einen Text, der Hoffnung gibt, wenn wir
darauf warten, dass das Licht anbrechen und Gott sich zeigen möge im
Dunkel unserer Welt. Klepper schrieb dieses Lied in einer Situation, in der
dieses Dunkel schwer auf ihm und seiner Familie lastete. Seine Frau war,
ebenso wie die beiden Töchter, jüdisch. Darum hatten sie deshalb unter
den Repressalien der Nationalsozialisten zu leiden. Der Versuch,
Deutschland zu verlassen, scheiterte, die Familie nahm sich daraufhin im
Dezember 1942 selbst das Leben.
Jochen Klepper war ein tiefgläubiger Mensch. Er hatte evangelische
Theologie studiert, war aber aufgrund seines labilen Gesundheitszustands
kein Pfarrer geworden. Er hatte in seinem Leben erfahren, was er in dem
Gedicht „Die Nacht ist vorgedrungen“ überaus eindrücklich zur Sprache
bringt: dass Gott selbst zu unserer Rettung in der Welt erschienen ist; dass
wir Hoffnung haben dürfen, auch in dunkler Nacht; dass seit Gottes
Kommen zu uns das Dunkel dieser Welt in göttlichen Glanz getaucht
wurde. Seine Familie und er haben schließlich keinen anderen Ausweg
mehr gesehen als den, selbst aus dem Leben zu scheiden. Lesen und
singen wir heute sein tief berührendes Gedicht, dann können wir hoffen
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und glauben, dass er in der Gewissheit aus dieser Welt gegangen ist, bei
Gott gerettet zu sein.
Die Aufforderung zur Liebe aus dem ersten Teil unseres Predigttextes rückt
durch den in Jochen Kleppers Gedicht so eindrücklich verarbeiteten
zweiten Teil in einen besonderen Horizont. Es ist nicht nur eine ethische
Ermahnung zum Leben nach den Geboten Gottes. Vielmehr steht dieser
Aufruf im Horizont von Gottes Zusage, der uns zuerst geliebt und seine
Liebe im Kommen Jesu Christi in unsere Welt gezeigt hat. Gott wird sein
Heil an uns erweisen, dessen dürfen wir gewiss sein. Die Nacht ist
vorgerückt, es ist Zeit aufzustehen, nüchtern zu sein, voll Zuversicht und
Gewissheit als Christen unser Werk in dieser Welt zu verrichten. Und so
wird dieser Text zu einem Adventstext. Er spricht zwar nicht direkt von der
Geburt Jesu, aber er beschreibt in seinem zweiten Teil in sehr plastischer
Weise die Situation derer, die an Jesus Christus glauben. Unsere Rettung
ist nahe, wie die vorgerückte Nacht dem Tag. Darum ist es Zeit, dass wir
uns dem Licht zuwenden, die „Werke der Finsternis“ ab- und die „Waffen
des Lichts“ anlegen.
Die Aufforderung zu einem Leben, das von der Liebe zu unserem
Mitmenschen – und wir können hinzufügen: zur Welt als Gottes Schöpfung
insgesamt – gründet demnach darauf, dass Gott selbst uns unsere Rettung
zugesagt hat. Darum dürfen wir getröstet und zuversichtlich sein, trotz aller
Misshelligkeiten, die uns jetzt in dieser Welt noch bedrücken. Das ist die
Botschaft dieses Textes wie auch des Gedichts von Jochen Klepper.
Wir hören diesen Zuspruch heute an einem besonderen Sonntag. Nicht
zufällig beginnt das Kirchenjahr, anders als das kalendarische Jahr, mit der
Adventszeit. Es ist die Zeit, in der wir darauf zugehen, dass Gott sich in der
Geburt Jesu mitten hinein begeben hat in das Dunkel der Welt. Die
Botschaft, die uns im Advent zugesagt wird, lautet: Die heilvolle Nähe
Gottes, die so viel Hoffnung in sich birgt, so viel Trost und Zuversicht, wird
nirgendwo so konkret, so fassbar wie in seinem Kommen in der Gestalt
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Jesu von Nazareth. Natürlich wusste Paulus, dass wir Menschen fehlbar
sind. Dass wir schuldig werden vor Gott und an unseren Mitmenschen.
Kein Mensch kann von sich sagen, er würde einst unschuldig und ohne
Fehl vor Gott treten. Von der Liebe Gottes zu uns kann uns aber nichts
trennen, trotz und gerade in unserer eigenen Fehlbarkeit.
Darauf dürfen wir vertrauen, in der krisengeschüttelten Zeit, in der wir
leben. Vieles scheint gegen die Botschaft der Hoffnung und des Lichts zu
sprechen. Manchmal scheint das Dunkel überhandzunehmen. Die Welt
scheint in Unordnung geraten zu sein, manch einer spricht sogar schon
vom „Niedergang des Westens“, wie der Titel des im vergangenen Jahr
erschienenen Buches des französischen Historikers Emmanuel Todd
lautet. Eines seiner wesentlichen Argumente lautet dabei, dass der
Niedergang des Protestantismus den Zerfall der westlichen Ordnung
insgesamt nach sich ziehe.
Man mag zu solchen Unheilsprophetien stehen, wie man will – und
natürlich ist die These dieses Buches einseitig und nicht zufällig deutlicher
Kritik unterzogen worden. Als Christen können uns Thesen wie die von
Emmanuel Todd darauf aufmerksam machen, dass der christliche Glaube
– und das gilt natürlich nicht für seine protestantische Gestalt – eine direkte
Beziehung haben zur Gesellschaft, in der wir leben. Wir können uns mit
dem, was unsere Grundlage ist – nämlich die Gewissheit, dass Gott selbst
diese Welt erschaffen hat und dass er seine gerechte Ordnung in dieser
Welt durchsetzen wird – einbringen in diese Welt. Wir können die Liebe
Gottes in sie hineintragen, wo immer wir die Möglichkeit dazu haben. Wir
können diese Welt im Namen Gottes, der das Heil aller Menschen will, hell
und freundlich werden lassen. Die Liebe, mit der Gott uns zuerst geliebt
hat, können wir weitergeben in dem Vertrauen darauf, dass sie Feindschaft
und Gewalt überwinden kann.
Es sind nicht nur in vielleicht einmal in erster Linie die großen politischen
Entscheidungen, die unsere Welt verändern. Es sind vor allem die kleinen
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Veränderungen, zu denen wir alle beitragen können, die dieser Welt ein
menschenfreundliches Antlitz geben. Wenn spürbar wird, dass wir als
Christen aus der Zuversicht leben, dass diese Welt ein lebenswerter Ort
sein kann, wenn wir die Menschen um uns herum spüren lassen, dass wir
ihnen wohlgesonnen sind und ihr Bestes wollen, wenn wir die Liebe Gottes
zu uns zum Prinzip unseres Lebens machen, dann wird weder der
Protestantismus noch die christliche Kirche überhaupt aussterben. Dann
werden wir als Christen vielmehr dazu beitragen, dass sich Gerechtigkeit
und Friede durchsetzen.
Gott kommt nicht in eine heile Welt, sondern in eine, die zerrissen ist,
unfriedlich und voller Spannungen. Das war zur Zeit des Paulus so, als er
den Text an die Christen in Rom geschrieben hat. Das war auch nicht
anders zur Zeit von Jochen Klepper, der seinen Glauben unter widrigen
Umständen gelebt hat und schließlich sogar um seiner Aufrichtigkeit willen
aus dem Leben geschieden ist. Die Adventsbotschaft trifft zu allen Zeiten
auf eine Welt, in der das Licht Gottes verdunkelt wird von den Umständen,
in denen Menschen ihren Glauben bezeugen. Gerade darum ist diese
Botschaft so wichtig. Sie weist den Weg zur Liebe, zur Überwindung von
Feindschaft und Intoleranz. Gottes Kommen in diese Welt zeigt uns, dass
wir nicht gefangen sind in den menschengemachten Ordnungen, nicht in
unseren Sorgen und Ängsten. Gott selbst kommt zu dieser Welt in der
Gestalt von Jesus Christus, klein und verletzlich, als Mensch unter
Menschen. Er kommt uns entgegen, teilt unser Leben, bis hinein in die
tiefste Not, er taucht unsere Welt in den Glanz der göttlichen Herrlichkeit.
Die Adventswochen sind eine Zeit der Besinnung, der Einkehr, der Ruhe.
Es ist die Zeit der Vorbereitung auf dasjenige Geschehen, das unseren
Glauben in seinem Kern ausmacht. Gott hat diese Welt nicht sich selbst
überlassen. Er hat ist zu uns gekommen, damit sein Friede auch in der
Welt spürbar werde, damit die Liebe sichtbar wird und sich in der Welt
verbreitet. Gottes Kommen bringt eine Hoffnung in diese Welt, die alles
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Unglück und Leid, alle Schuld, die wir auf uns geladen haben, und jedes
persönliche Missgeschick in das Licht seiner heilvollen Nähe stellt. Wir
brauchen uns nicht zu ängstigen, vor dem, was uns erwartet. Wir können
voller Hoffnung und Zuversicht darauf zugehen, was Gott für uns bereithält.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist die Zeit der Gewissheit, dass Gott das
Heil der Welt und von uns Menschen will.
In den vor uns liegenden Wochen werden uns die Kerzen, die in der
Dunkelheit scheinen, die Lieder, die wir singen, die biblischen Erzählungen
von der Erwartung des Heils Gottes für unsere Welt begleiten. Sie werden
uns hineinführen in die Weihnachtstage, in denen wir dies feiern: Gottes
Heil für diese Welt. Amen.