Hesekiel 37, 24-28

Mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.

Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein. Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer.

Meine Wohnung soll unter ihnen sein, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, damit auch die Völker erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.

 

Liebe Gemeinde,

mit unserem Weihnachtsfest sind viele Erwartungen verbunden. Fast alle feiern es. Man kann sich seiner Dynamik kaum entziehen. Es zieht irgendwie alle hinein in eine gehobene Stimmung, in eine Feierlichkeit, die es nur einmal im Jahr gibt, und ihn eine tiefe Sehnsucht nach… ja, nach was eigentlich?

Weihnachten ist ein seltsames Fest. Es ist das zentrale Fest im Jahresrhythmus, aber: Es besteht Sprachlosigkeit. Es wird immer wieder festgestellt, dass immer weniger Menschen wissen, warum man Weihnachten feiert. Der religiöse Gehalt ist vielen fern. Aber dennoch finden sich fast alle angerührt von diesem Fest mit allen seinen Bräuchen. Auch wer nicht religiös feiert, wird noch lange nicht sagen können, warum es ihn eigentlich anrührt.

Und dennoch: Alle Jahre wieder berührt das Weihnachtsfest unzählige Menschen – nie sind die Kirchen so voll. Selbst areligiöse Menschen singen voll Inbrunst die Lieder von der seligmachenden Weihnachtszeit und in der Stille der Heiligen Nacht rollt manche Träne. Weihnachten hat eben eine ganz eigene Dynamik. Warum? Woher diese Sehnsucht, diese hohen Erwartungen, die uns manchmal auch überfordern?

Sicherlich ist nicht nur ein einziger Grund verantwortlich.

 

Un motivo delle nostre emozioni, a Natale, può essere il bisogno umano di quiete.

Una volta l’anno, il tempo si deve fermare.

Una volta l’anno, la vita quotidiana e la sua velocità travolgente devono essere interrotte, e non solo per me personalmente,

ma per tutto il mondo.

L’occasione conferisce struttura al nostro tessuto sociale. L’appuntamento del Natale è sempre fisso sul calendario; offre incontri affidabili.

Non ci sono programmazioni faticose di appuntamenti, né discussioni: la data c’è e, con essa, ci sono l’albero di Natale e pietanze tradizionali.

Qui siamo liberi dalla pressione creativa che, altrimenti, ci tiene in pugno. Natale sarà come è sempre stato.

 

[Ein Grund für unsere Emotionen an Weihnachten mag das menschliche Bedürfnis nach Ruhe sein. Einmal im Jahr muss die Zeit einmal stehenbleiben. Einmal im Jahr muss der Alltag und seine mitreißende Geschwindigkeit unterbrochen werden – und zwar nicht nur für mich persönlich, sondern für alle Welt. Der Anlass gibt unserem kompletten sozialen Gefüge Struktur. Der Weihnachtstermin ist reserviert, bietet verlässliche Begegnung. Keine anstrengenden Terminplanungen, keine Diskussion, der Termin steht und mit ihm der Weihnachtsbaum, das traditionelle Essen. Hier sind wir frei vom Kreativitätsdruck, der uns sonst im Griff hat. Weihnachten soll so sein, wie es immer war.]

 

Weihachten soll so sein, wie es immer war, am besten so wie in Kindertagen.

Und damit kommen wir zum zweiten Motiv. Weihnachten macht uns wie kein anderes Fest zu Kindern. Es führt uns genauso unterbewusst wie machtvoll zurück in unsere Kindheit. Unzählige Weihnachtserfahrungen haben sich tief eingegraben in unsere Seele, und jedes Jahr versuchen wir neu, diese tief sitzenden Erfahrungen zu reaktivieren: Wie wir kindlich naiv und neugierig alles aufgesogen haben, was uns dieses Fest an Glanz und Geschenken, an Gesichtern und Gerüchen geboten hat.

Es ist die Sehnsucht nach einer Zeit der Unschuld und der Begeisterungsfähigkeit, die für uns alle längst vergangen ist, und die sich auch nicht neu herstellen lässt, nicht einmal an diesem Abend. Hier gibt keine zweite Naivität mehr.

 

Könnte es aber sein, dass diese emotionsgeladene Erinnerung an die Kindheit die durchaus erwachsene Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Heimat, nach Sicherheit ist? Nie waren wir so geborgen und sicher und so zu Hause wie unter dem Tannenbaum unseres Elternhauses.

Weihnachten weckt die Sehnsucht des Menschen. Und ich bin mir einigermaßen sicher, dass diese tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit das leitende Moment an diesem Fest ist.

 

Aber überlegen Sie selbst, was Sie an diesem Abend leitet und anrührt und was Sie von diesem Fest erwarten! Dass Sie irgendwelche Erwartungen haben, davon gehe ich aus. Denn sonst wären Sie zu Hause geblieben und hätten diesen Tag beendet wie jeden anderen auch.

Es ist ein besonderer Abend. Denn er weckt in uns sonst durch und durch nüchternen und beschäftigten Menschen die tiefste Sehnsucht, die der Mensch kennt.

 

Und jetzt stellt sich die Frage, ob die kirchliche Botschaft dieses Festes auch eine tragende Antwort auf diese Sehnsucht gibt.

Anders gesagt: Sie bringen alle tiefe, diffuse Erwartungen an dieses Fest mit, vielleicht auch an diesen Gottesdienst. Aber kommt nun das, was diese Erwartungen stillt, befriedigt, erfüllt? Reicht die Geschichte vom Stall im Bethlehem, um unser aller Sehnsucht zu stillen?

Ist die Botschaft von einem neugeborenen Kind die Information, die uns zur Ruhe bringt, nicht nur diesen Abend, sondern auch im aufgeregten Herzschlag unserer Sorgen?

Ist der Blick in die Krippe mit Maria und Joseph und dem neugeborenen Jesus so, dass wir nicht nur an unsere Kindheit erinnert oder von der Einfachheit der Szene angerührt werden, sondern dass wir dort ankommen, zur Ruhe kommen, auf die Knie fallen und wie die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland merken, dass wir dort nicht nur zu Besuch sind, sondern zu Hause?

Ist die Krippenszene märchenartiges Idyll, oder stellt sie unsere echte, unsere eigentliche Heimat dar?

Ist die Weihnachtsgeschichte, die wir jedes Jahr wieder in Luthers Deutsch aus dem Lukasevangelium hören, nur Tradition und eine Art Gute-Nach-Geschichte, die das Gemüt beruhigt, aber nichts verändert, oder bietet sie die Antwort auf die Fragen und Sehnsüchte, die Sie alle unterschwellig mitgebracht haben zu diesem Fest und in diese Kirche?

 

Sie bringen heute Abend alle tiefe, diffuse Erwartungen mit. Schafft es die biblische Weihnachtsgeschichte, diese Erwartungen zu treffen? Geht sie so tief, dass sie auf die gleiche Ebene kommt, wo das innere Kind in Ihrer Seele steht?

Und wenn überhaupt: Schafft es dann das noch viel ältere, vom uns eher unbekannten Propheten Hesekiel stammende Wort, unseren erwartungsvollen Seelen etwas zu sagen?

Jahrhunderte vor Kaiser Augustus und Jesu Geburt sagt da ein Prophet im Namen Gottes:

„Mein Knecht David wird ihr König sein, ein einziger Hirte für das ganze Volk.“

Kann uns dieses historisch ferne und auf den ersten Blick ganz un-weihnachtliche Wort heute etwas sagen?

 

Ich denke ja, und will Ihnen sagen warum:

 

Prophetenworten sind Sehnsuchtsworte. Besser: Worte, die in die Sehnsucht der Menschen hineinsprechen. Prophetenworte waren schon immer Sehnsuchtsworte. Keine Worte, die die menschliche Sehnsucht hervorbringt, sondern Worte Gottes, die in die menschliche Sehnsucht hineinsprechen.

Und die Sehnsucht des Volkes Israel war damals gar nicht so weit entfernt von unserer Sehnsucht heute: Sie wollten Frieden. Sie wollten einen guten Herrscher. Sie wollten Sicherheit im Land. Das ist alles nicht neu.

Aber das Versprechen, dass Gott ihnen dazu gibt, ist sonderbar:

Er spricht von David, König und Hirte.

Da kommen in der Erfahrung Israels drei Ideale zusammen:

David war kein König wie jeder andere. Er war der ideale König in Israels Erinnerung. So wie unser Herz bei der Erinnerung an Weihnachtsabende in der Kindheit höherschlägt, so schlägt Israels Herz bei der Erinnerung an das Königtum Davids höher. Das waren goldene Zeiten.

David kam aus einfachen Verhältnissen. Er war eigentlich Schafhirte. Er hatte nicht nur Charisma, sondern er schaffte es auch, was ein Hirte mit seinen Tieren schafft: Er hält sie zusammen und führet sie auf sicherer Weide. Er geht voran und ist sich für nichts zu schade.

Wo immer in der Bibel David, Königtum und Hirtendienst zusammenkommen, da steht die Idealform von Gesellschaft vor Augen.

Israel weiß wie wir: Wir brauchen keine Machthaber, wir brauchen Hirten.

Und wenn schon einen König, dann einen wie David.

 

Und vielleicht werden sie jetzt merken, dass alle drei Motive dieser Idealherrschaft Israels – David, König, Hirte – auch in unserer Weihnachtsgeschichte vorkommen.

Bethlehem ist nicht zufällig Davids Stadt, sondern der Ort, wo auch König David geboren wurde.

Die Hirten sind nicht zufällige Assistenzfiguren, die als erste zur Krippe kommen, sondern sie sind die ehrenwerte Berufsgruppe, aus der Israels großer König kam.

Jesus stammt nicht zufällig aus dem Haus und Geschlecht Davids, sondern ist ein Nachkomme des Stammes Juda, und steht damit in der Königsdynastie. König Herodes zuckt zu Recht ängstlich zusammen, als von einem neuen Heiland die Rede ist.

 

Dove, nell’Israele della beata memoria di Davide, si riuniscono re e pastori, lì arriva la pace.

Dove, nella città di Davide, nasce, in condizioni umili, un nuovo Salvatore, che viene accolto dai pastori,

lì gli angeli cantano, non senza ragione, di pace in terra.

Dove, nella nostra beata atmosfera natalizia, spunta il desiderio di sicurezza, protezione e casa, lì ci

compare davanti agli occhi il Salvatore nato per noi, che, in una sola persona, è Figlio di Davide, Re e Buon Pastore.

 

[Wo in Israels seliger Erinnerung David, König und Hirte zusammenkommen, da tritt Frieden ein.

Wo in Davids Stadt ein neuer Retter in einfachen Verhältnissen geboren und von Hirten begrüßt wird, da singen die Engel nicht grundlos vom Frieden auf Erden.

Wo in unserer seligen Weihnachtsstimmung die Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Heimat aufkommt, da tritt dieser für uns geborene Retter vor unsere Augen, der in einer Person Davidssohn, König und guter Hirte ist.] 

 

Gott lässt die Sehnsucht seiner Menschen nicht unbeantwortet.

Bethlehem als Davids Stadt, „euch ist heute der Heiland geboren“; die Hirten auf den Feldern:

Das sind keine schwer verständlichen Bruchstücke einer alten Religion, das sind keine literarischen Motive einer rührenden Erzählung. Das sind die Signalworte der Antwort Gottes auf unsere alte Sehnsucht nach Geborgenheit und Frieden.

Gott lässt die Sehnsucht seiner Menschen nicht unbeantwortet.

Und die Botschaft dieses Festes schreibt diese Antwort an den Himmel, dass die Engel singen und ein Stern leuchtet. Sie schreibt diese Antwort hinein in die ganze Erbärmlichkeit unseres Lebens zwischen Heu und Stroh, zwischen Ankommen und Aufbrechen, hinein in den zugigen Stall unserer flüchtigen Gesundheit.

Das ist der Kern des Weihnachtsfestes. Und wo immer diese ewige Wahrheit und unsere tiefe Sehnsucht zusammentreffen, da ist der Stern von Bethlehem in uns aufgegangen und geht nie mehr unter.

 

Chi non guarda solo di sfuggita alla mangiatoia può trovare questa risposta umanata.

Chi si mette in cammino non rinuncia a sperare nella pace,

in mezzo a conflitti latenti.

Chi prende sul serio questo messaggio del testo biblico, non resta solo nel suo desiderio o nostalgia natalizia,

ma scopre il fondamento di tutta la gioia natalizia e l’àncora in ogni sorte possibile.

 

[Wer nicht nur flüchtig in die Krippe schaut, der kann diese menschgewordene Antwort finden.

Wer sich auf den Weg macht, wird die Hoffnung auf den Frieden nicht aufgeben inmitten von schwelenden Kriegen.

Wer diese Botschaft der biblischen Texte ernstnimmt, der bleibt nicht allein in seiner Sehnsucht oder weihnachtlichen Nostalgie, sondern der entdeckt den Grund aller Weihnachtsfreude und den Anker in jedem denkbaren Schicksal.]

 

Liebe Gemeinde,

wer an Weihnachten sentimental wird, der braucht sich nicht zu schämen. Wer Geborgenheit sucht und Harmonie und Halt, der hat Recht!

Heute wird uns gesagt: Man kann sie finden: Weit über freie Tage, Familienidylle und gehobene Stimmung hinaus.

 

In der Krippenszene öffnet sich keine Bühne für eine anrührende, weil einfache Familienszene.

In der Krippenszene breitet der ewige, unsichtbare, oft ferne und unverständliche Gott seine Arme weit aus und bietet uns Zuflucht und Heimat und Geborgenheit an.

Das ist mehr als eine bewegende Geschichte.

Das ist mit diesem neugeborenen Kind als David, König und Hirte eine reale, bleibende und wirkende Person.

Unsere glänzenden Weihnachtsstuben, so schön sie auch geschmückt sind und wie viel Nostalgie sie auch bieten, werden wir wieder abbauen.

Dieser Heiland, Held und Hirte aber, der wandert nicht in die Kiste auf dem Dachboden, sondern geht an unserer Seite jeden einzelnen Tag.

Mehr Geborgenheit und Sicherheit gibt es nicht. Amen.

Christvesper – Pfr. Dr. Jonas