Jes 58, 7-12
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.
Liebe Gemeinde!
„Die leben von der Hand in den Mund.“ Das sagen wir von Menschen, die nicht viel haben und deren ganzes Einkommen für das Essen draufgeht.
„Die leben von der Hand in den Mund.“ Das sagen wir oft etwas abschätzig oder mitleidig über Zeitgenossen, deren Planung nicht hinausreicht über die Frage „Wie werde ich heute satt?“
Leben von der Hand in den Mund: Das erscheint uns nicht erstrebenswert und unbedacht. Wenn arme Menschen so leben müssen, dann helfen wir ihnen bestenfalls – so wie mit unserem Armenfrühstück – aber wir sind froh, wenn wir nicht so leben: von der Hand in den Mund.
Aber wenn ich mir unser Konsumverhalten anschaue, dann ist das bei vielen Menschen doch so: Sie leben von der Hand in den Mund.
Nicht, weil sie sich nicht mehr leisten können und genug Reserven und Optionen haben, sondern weil sie nicht weiter nachdenken als von der Hand in den Mund.
Oder man müsste besser sagen: Sie leben vom Supermark-Regal bis in den Mund oder von der Speisekarte bis zum Teller oder von der Amazon-Seite bis zum eigenen Briefkasten.
Unser Nachdenken reicht oft nur vom Hunger bis zur Sättigung, vom Verlangen bis zur Befriedigung, von der Idee bis zur Erfüllung.
„Von der Hand in den Mund“: Diese Bemerkung sollten wir nicht mitleidig an andere anlegen, sondern selbstkritisch an uns.
Wie oft reicht unser Bewusstsein für unsere Ernährung und unseren Wohlstand nicht weiter als vom Geldbeutel zum Mund, ohne zu denken, ja im Tiefsten zu spüren: Das ist nur ein ganz kleiner Teil des Weges, den unsere Nahrung, unsere Güter, unsere Ressourcen gelaufen sind.
Das Erntedankfest lädt uns jedes Jahr wieder ein, diese Aufmerksamkeitsspanne zu erweitern: Vom Ackerfeld bis auf den Tisch, von der Erntearbeit bis in die Küche, von den Kräften der Natur bis zu unserer Zufriedenheit mit vollem Bauch.
Dieser Weg ist lang.
Aber ist das überhaupt ein linearer Weg?
Unser Bibelwort heute stellt uns einen Kreislauf vor Augen.
Unser Brot kommt nicht über ein langes gerades Förderband zu uns, sondern es ist Teil eines großen Kreislaufs. Dreimal heißt es bei Jesaja „und dann“. Alles hängt zusammen, alles baut aufeinander auf.
Was ist das für ein Kreislauf?
I
Man muss kein gläubiger Mensch sein, um zu erkennen, dass in der Natur alles durch beeindruckende Prozesse und Dynamiken zusammenhängt. Der moderne Mensch weiß heute um alle diese Prozesse. Sie sind ihm kein Rätsel mehr und auch kein undurchschaubares Geschick, das uns irgendwelche Götter senden, die mit Donner oder Sonne identisch sind.
Wir kennen den Kreislauf des Wassers, das aufsteigt und als Regen wieder herunterkommt.
Wir kennen die Wirkung des Lichts, das durch die Photosynthese der Pflanzen Zucker und Sauerstoff entstehen lässt.
Wir kennen die Nahrungsketten, die Hierarchie von Fressen und gefressen Werden.
Wir können über alles staunen, weil das kein Mensch erdacht oder erfunden hat, sondern wir uns schon immer darin vorfinden und uns nur darin einfügen müssen.
Aber genau das ist in den vergangenen Jahrzehnten fraglich und gefährlich geworden. Der Mensch fügt sich in diese fast ewigen Kreisläufe nicht mehr ein, sondern er geht über sie hinweg, greift in sie ein und ändert sie sogar.
Wenn das Wasser nicht mehr dorthin kommt, wo es hinmuss, dann werden sich Landschaften und Pflanzen verändern.
Wenn wir Menschen nur wie in einer Einbahnstraße nehmen anstatt zurückzugeben, dann wird es irgendwann eng mit Sauerstoff, Öl und Seltenen Erden.
Die Erde ist kein Regal im Supermarkt. Sie ist ein sensibles Geflecht von Kreisläufen. Und wir stehen als ein Glied in diesen Ketten – begrenzt, abhängig, verwundbar.
Diese Erkenntnis ist heute in unseren Breiten allgemein sehr verbreitet. Diese Erkenntnis ist aber auch tiefreligiös.
Denn sie lehrt uns Demut. Und sie stellt die Frage nach dem großen Ganzen:
Sind wir nur Objekte und Opfer großer und unheimlicher Mechanismen, die einfach nur da sind und uns im schlimmsten Fall um die Ohren fliegen oder gibt es da eine Hand, durch die alles zusammenhalten wird?
II
Die Antwort hier in der Kirche wird Ihnen klar sein.
Für den Propheten Jesaja, auf dessen Worte wir heute hören wollen, ist völlig klar, dass die großen Kreisläufe der Natur nicht nur beschrieben werden, sondern dass auch das Subjekt dahinter genannt wird.
Die „Herrlichkeit des Herrn“ steht am Ende der Wege. Es ist der „Herr“, der antwortet, führt und sättigt.
Wir Menschen sind nicht hineingeworfen in blinde Mechanismen, sondern wir können Ross und Reiter benennen (d.h. sagen, wer Subjekt und Objekt ist).
Christen müssen keine Angst haben vor blinden Naturmächten.
Christen staunen nicht nur wortlos vor großen Phänomenen.
Christen sind dankbar, weil sie alles zuordnen und dem einen großen Gott zuschreiben können.
Ich sage es noch einmal: Wir können Ross und Reiter benennen.
Wir reden nicht von Wesen und Naturmächten.
Wir reden vom Schöpfer und seinen Geschöpfen.
Wir nennen das Kind beim Namen.
Das ist nicht primitiv und unwissenschaftlich, sondern das ist ausgesprochen transparent und ehrlich.
Hören Sie mal genau hin, wie in säkularen Wissenschaftssendungen gesprochen wird! Da heißt es dann: „Die Natur hat das so und so vorgesehen.“, „Die Evolution will das so und so.“, oder „Das Universum macht das so und so.“ Hier wird von blinden Größen gesprochen wie von persönlichen Subjekten mit Intelligenz und Willen.
Aber wenn wir den lebendigen Gott ins Spiel bringen, dann werden die Augen verdreht. Sehen Sie mal genau hin, wie viel von unserer vorgeblich säkularen Naturwissenschaft in pseudoreligiösen Sprachformen präsentiert wird.
Und scheuen Sie sich nicht, ehrlich den Schöpfer zu nennen, den wir als Intelligenz und Willen und Ziel hinter allem sehen, was wir vorfinden und sind.
III
Der Kreislauf, den wir uns heute bewusst machen, und den uns Jesaja in seinen Worten beschreibt, ist nicht nur identisch mit der Nahrungskette und beschreibt nicht nur Ressourcen, Güter und Speisen.
Er geht weit drüber hinaus. Gott baut uns nicht nur ein in den Kreislauf von Essen und Trinken, Atmen und Wohnen, sondern auch in das System seiner Werte. Es geht um Wärme, Liebe, Zuwendung. Nicht bloß um essen und überleben. Gott behält seine Gerechtigkeit und Herrlichkeit nicht für sich, sondern will, dass seine ganze Schöpfung gerecht lebt und seine Herrlichkeit widerspiegelt.
Wir leben nicht in einer Einbahnstraße, die auf unser Konto oder auf unseren Teller hinführt.
Nahrung kommt nicht nur mir zu, sondern auch anderen. Und wenn ich genug habe, dann kann ich mein Brot auch teilen, mit dem der weniger hat, so wie ich mein Leben mit anderen teile – mit allem, was mir lieb und wert ist.
Wir sind Teil eines großen, umfassenden Kreislaufs. Wenn wir uns dem nicht entziehen, dann strömt nicht nur Wasser auf die Felder und in die Gärten, sondern dann wirst du selbst „sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“
Da wird nicht nur die Sonne am Himmel aufgehen, sondern dann „wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“
Diese Bilder zeigen uns so schön, dass es nicht nur um Arbeit und Ernte, Essen und Trinken, Leben und Sterben geht. Wer denkt, unsere Bestimmung geht in den biologischen Zyklen auf, unterschätzt unseren Schöpfer.
Sein großer Kreislauf besteht nicht nur aus Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Er reicht nicht nur von Urknall bis Weltuntergang. Er beschränkt sich nicht auf die Spanne zwischen Geburt und Tod. Er gewährt uns nicht nur ein Wachsen und Vergehen.
Sein großer Zusammenhang besteht aus Gerechtigkeit und Sinn – weit über mein eigenes Leben und den Tod hinaus.
Lebensgrundlagen, Lebensbedingungen, Lebensqualität, Lebenssinn.
Das alles hängt zusammen. Und das gibt es nicht ohne meinen Nächsten, ohne die anderen Geschöpfe. Und das alles erschließt sich mir nicht ohne Gott, den Schöpfer, der alles gemacht hat, den Sohn, der mich im System hält, auch wenn ich eigentlich rausgefallen bin, ohne den Geist, der mich das begreifen lässt.
Erntedank heißt: Sich diesen Kreislauf bewusst zu machen.
Christsein heißt: Bewusst in diesem Zusammenhang zu leben.
Und wer sich in diesen Kreislauf einfügt, der lebt bestimmt nicht von der Hand in den Mund, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden, mit dem Herzen am rechten Fleck und seiner Zukunft im Himmel.
Amen.