Johannes 18,28 – 19,5

Der Predigttext für den heutigen Sonntag, liebe Gemeinde, ist ein Abschnitt aus der Passionsgeschichte, wie sie im Johannesevangelium erzählt wird. Wir werden mit hineingenommen in die Geschehnisse des Leidens und Sterbens Jesu. Alle Evangelien des Neuen Testaments erzählen diese Ereignisse und jedes Evangelium setzt dabei seine eigenen Akzente. Leiden und Tod Jesu werden auf diese Weise zugleich gedeutet. Das war und das ist eine überaus wichtige und zugleich eine sehr herausfordernde Aufgabe, denn die Frage, warum Jesus, der als Sohn Gottes in die Welt gekommen war und den Menschen Gottes Licht und Gottes Wahrheit gebracht hat, auf so grausame Weise sterben musste, gehört von allem Anfang an ins Zentrum des christlichen Glaubens. Warum glauben wir Christen an jemanden, der grausam hingerichtet wurde, der nach irdischen Maßstäben also gescheitert ist? Diese Frage begleitet das Christentum seit jeher. Das Johannesevangelium beantwortet sie auf eine ganz eigene Weise; auf eine Weise, die theologisch überaus anspruchsvoll und zugleich erzählerisch meisterhaft ist. Hören wir zunächst auf den Predigttext, der von der Begegnung Jesu mit Pilatus erzählt.

 

28 Da führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten. 29 Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen? 30 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet. 31 Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten. 32 So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. 33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der König der Juden? 34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir andere dies über mich gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich etwa ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Meine Herrschaft ist nicht von dieser Welt. Wäre meine Herrschaft von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist meine Herrschaft nicht von hier. 37 Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du also doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. 38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. 39 Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe? 40 Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.

19,1 Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an 3 und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht. 4 Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. 5 Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, der Mensch!

 

Was für ein König! Seine Krone ist aus Dornen geflochten. Sie wird ihm auf den Kopf gedrückt, das Blut fließt ihm von der Stirn über das Gesicht, den Körper hinab. Ein Purpurmantel wird ihm umgelegt, um ihn zu verspotten: Schaut her, was für ein beeindruckender König! Einer, dem man ungestraft ins Gesicht schlagen kann; der sich nicht wehrt, wenn man ihn anspuckt. Schaut ihn euch doch an, diesen Menschen! sagt Pilatus. Was habt ihr von dem schon zu befürchten? Wollt ihr wirklich, dass ich den hinrichten lasse? Was hat er denn getan? Ich könnte ihn freilassen und stattdessen den Verbrecher Barabbas hinrichten lassen. Aber das wollten seine Ankläger nicht.

 

Was für ein König! Jesus mit Dornenkrone und Purpurmantel, verspottet und geschlagen. Johannes stellt den Kontrast zu irdischen Herrschern scharf heraus. Wir kennen das auch aus zahlreichen bildlichen Darstellungen, die das Leiden Jesu eindrücklich vor Augen führen. Die Passionsgeschichte, wie sie Johannes erzählt, rückt dabei ins Zentrum: Jesus ist und bleibt der von Gott in die Welt Gesandte. Er ist und bleibt derjenige, der Gottes Licht, Gottes Wahrheit, Gottes Liebe in die Welt bringt. Er ist und bleibt das auch in seinem Leiden und in seinem Tod. Jesu Kommen in die Welt vollendet sich am Kreuz. „Es ist vollbracht“ lautet darum sein letztes Wort. Das Johannesevangelium betont diesen Gegensatz mit unüberbietbarer Deutlichkeit: Jesus, der leidende, gequälte und verspottete Mensch ist zugleich der von Gott in Welt gesandte Offenbarer. Nirgendwo wird dieser scheinbare Widerspruch so stark betont wie bei Johannes. Nirgendwo treffen die Wahrheit Gottes und die Lüge der Welt so hart aufeinander wie hier. Nirgendwo wird darum so deutlich: Nur im Glauben an die Wahrheit und die Liebe Gottes, die Jesus in die Welt gebracht hat, sind Leben und Licht zu finden. Nur im Glauben an Jesus können wir all das hinter uns lassen, was uns von Gott trennt.

Pilatus versteht das nicht. Er versucht, mit Jesus ein Gespräch zu führen, das sich an seinen eigenen Vorstellungen von Herrschaft, Macht und Wahrheit ausrichtet. Damit muss er unausweichlich scheitern. Pilatus steht darum für alle, die sich an den Maßstäben dieser Welt orientieren. Was Herrschaft ist und Macht, was Jesu Königsein bedeutet und gar was Wahrheit ist – all das kommt zwischen Jesus und Pilatus zur Sprache, in einem Gespräch, das ein einziges großes Missverständnis ist.

 

Was für ein König! Jesus, der Verhaftete und Verhörte – das ist nicht das, was weltliche Herrscher sein wollen, damals nicht und heute auch nicht. Römische Kaiser inszenierten sich gerne auf Statuen, Büsten und Münzen. Augustus war ein Meister darin, seine Nachfolger taten es ihm nach. Stark und aufrecht, jung und gesund, gerne mit Brustpanzer oder auf einem Pferd, immer gleich aussehend, auch nach Jahrzehnten noch, so ließen sie sich porträtieren und so wurden ihre Bilder im Römischen Reich verbreitet. Hier in Rom gibt es unzählige Beispiele solcher Selbstpräsentationen, in Museen, aber auch unter freiem Himmel. Vor den Kaiserforen an der Via dei Fori Imperiali kann man sich einen Eindruck davon verschaffen. Die Statuen der Kaiser stehen vor ihren Foren, so, wie sich selbst gerne gesehen haben und von anderen gesehen werden wollten.

Wie sich Herrscher heute gerne präsentieren, unterscheidet sich davon vielleicht in der Form, aber nicht in der Sache. Mit freiem Oberkörper auf dem Pferd durch Sibirien reitend oder beim Eisbaden im Fluss präsentiert sich der eine und greift ein anderes Land auf brutale Weise an; der andere zeigt sich Dekrete unterzeichnend im Oval Office, erklärt der ganzen Welt den Handelskrieg und fühlt sich stark, wenn er Freund und Feind mit absurden Zöllen überzieht. Was ist schon Wahrheit, das fragen diese Herrscher mit derselben Ignoranz und Arroganz, mit der schon Pilatus den Satz Jesu, dass er in die Welt gekommen ist, um die Wahrheit zu bezeugen, als Geschwätz abgetan hat. Die Wahrheit Gottes, die Jesus bezeugt, liegt quer zu den Maßstäben, an denen sich Pilatus und ungezählte andere weltliche Herrscher vor und nach ihm ausgerichtet haben. Die Herrschaft Jesu ist nicht so, wie die Mächtigen dieser Welt sich das vorstellen.

 

Was für ein König! Die Leidensgeschichte Jesu, wie sie das Johannesevangelium erzählt, stellt die Maßstäbe von Macht und Ohnmacht, von Souveränität und Zynismus, von Recht und Unrecht auf den Kopf. Eigentlich ist Jesus der Gefangene und Angeklagte. Er wird von seinen Anklägern zu Pilatus gebracht, damit er von ihm verurteilt und hingerichtet würde. Dann aber dreht sich die Szene um. Pilatus, der römische Statthalter, verantwortlich für Rechtsprechung und Todesurteile, sucht nach einem Grund dafür, Jesus zu verurteilen. Und unversehens verstrickt er sich in eine Situation, aus der er nicht mehr herauskommt. Wie ein Dienstbote, der Nachrichten überbringt, läuft er zwischen den Juden, die draußen, vor dem Prätorium, seinem Amtssitz, stehen, und Jesus, der drinnen ist, hin und her. Wenn ihr meint, er sei ein Übeltäter, dann richtet ihn doch nach eurem Gesetz, lässt er die Juden wissen. Wir dürfen aber kein Todesurteil aussprechen und vollstrecken, entgegnen ihm diese. Also läuft er wieder zu Jesus hinein. Bist du der König der Juden? fragt er ihn. Sollte Jesus Macht für sich beanspruchen, könnte Pilatus ihn als politischen Aufrührer verurteilen, denn die politische Herrschaft hatten die Römer inne. Aber das Gespräch mit Jesus entwickelt sich für Pilatus geradezu zu einem Desaster. Jesus klärt ihn darüber auf, dass er sehr wohl ein König sei, allerdings nicht mit weltlicher Macht. Seine Herrschaft sei nicht von dieser Welt, lässt er ihn wissen. Damit ist Pilatus sichtlich überfordert. Bist Du nun ein König oder nicht? insistiert er. Ein König schon, aber einer, der eine Herrschaft aufrichtet, die sich nicht an weltlichen Maßstäben orientiert; ein König, der in die Welt gekommen ist, um die Wahrheit zu bezeugen.

Was soll das nun wieder heißen? fragt Pilatus, sichtlich irritiert. Was soll das denn schon sein, Wahrheit? Er fragt das nicht, weil er ein ernsthaftes, gar philosophisches Interesse an Wahrheit hätte. Er schiebt den Hinweis Jesu auf die Wahrheit, die er bezeugt, vielmehr als Unfug zur Seite, mit dem er sich nicht befassen will. Damit steht er für alle die, die sich nicht einlassen wollen darauf, dass die Wahrheit nur zu finden ist, wenn wir uns nicht an weltlicher Macht und den vermeintlichen Vorteilen, die sie mit sich bringt, ausrichten. Was Jesus in die Welt gebracht hat – Leben, Licht, Wahrheit –, das finden wir nur dann, wenn wir uns an Gott orientieren, den Jesus in der Welt bekannt gemacht hat. Wenn wir uns an der Form von Herrschaft und an dem Menschenbild ausrichten, derer wir in der Passionserzählung des Johannes ansichtig werden.

 

Was für ein König! Der Geschlagene und Verspottete, den Pilatus den Anklägern Jesu präsentiert, ist der Mensch, in dem wahre Herrschaft und irdisches Leiden auf hintergründige Weis miteinander in Beziehung gesetzt werden. Seht, den Menschen! sagt Pilatus über Jesus mit Dornenkrone und Purpurmantel. Und damit sagt er ganz ungewollt und eher aus Versehen etwas, das für das Johannesevangelium ganz grundlegend wichtig ist: Gerade so, in seiner Schwäche und Unansehnlichkeit, in seinem Leiden und seiner Verspottung, ist Jesus der Mensch, der Gottes Wahrheit und seine Herrschaft in der Welt verkündigt. Der leidende und geschlagene, der gekreuzigte und sterbende Jesus ist zugleich derjenige, durch den Gott in der Welt sichtbar wird. Der Gekreuzigte als der Verherrlichte – nirgendwo kommt dieser Kontrast so intensiv, so pointiert, so eindrücklich zur Anschauung wie in der Passionsgeschichte des Johannesevangeliums.

 

Gottes Wahrheit ist nicht die Wahrheit dieser Welt. Pilatus hat das nicht verstanden. Die Herrscher dieser Welt, die auf ihre Macht, ihr Ansehen, auf Gewalt und Stärke setzen, verstehen es auch nicht. Jesu Herrschaft orientiert sich nicht an weltlichen Maßstäben. Darum kann sie ihm auch nicht genommen werden. Pilatus versteht das nicht. Viele andere nach ihm, die meinen, dass sie ihr Heil darin finden, nach weltlichem Ruhm und vergänglicher Ehre zu streben, verstehen es auch nicht. Jesus ist gerade als der geschundene und verhöhnte Mensch derjenige, der Gottes Wahrheit in die Welt bringt. Pilatus versteht das nicht. Viele andere, die nach ihm auf die vergänglichen Wahrheiten dieser Welt setzen, die kein Gespür für das Leid und die Niedrigkeit der Bedrückten und Gebeugten dieser Erde haben, verstehen es auch nicht. Sie verstehen nicht, dass der Weg Jesu, der sich in Leiden und Tod vollendet, all das Leid dieser Welt in sich aufgenommen hat.

Johannes erzählt vom Leiden und vom Tod Jesu in einer Weise, die Gottes Wahrheit und seine Herrlichkeit mit der Niedrigkeit und Unansehnlichkeit dieser Welt verbindet. Darin liegen der große Trost und die tiefe Hoffnung, die seither in der Welt sind. Sie tragen uns durch diese Wochen der Passionszeit, in denen wir das Leiden und Sterben Jesu Christi bedenken. Sie führen uns hinein in die österliche Freudenzeit, in der wir die Auferstehung Jesu Christi und sein Eingehen in Gottes Herrlichkeit feiern dürfen. Amen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Judica – Prof. Dr. Jens Schröter