Hebräer 4,14-16
Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade,
damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit,
wenn wir Hilfe nötig haben.
Liebe Gemeinde!
Wir Menschen haben nicht überall freien Zugang. Es gibt Orte, an die kommen wir nicht ran. Das ist schon im normalen Leben so. Wir können nicht einfach zu unserem Chef ins Büro eintreten. Da müssten wir vorher einen Termin bei der Sekretärin ausmachen.
Wir könnten keinen Politiker einfach in seinem Büro besuchen. Dazu müsste man vorher einen Termin machen; und ich glaube, die meisten von uns würden diesen Termin gar nicht bekommen, weil wir nicht wichtig genug sind.
Aber auch in die Deutsche Schule hier in Rom kommt man nicht einfach rein. Nur, wer in Kindergarten und Schule angemeldet ist, wird reingelassen. Sonst bleibt das eiserne Tor verschlossen.
Und auch der Vatikan mit seinen hohen Mauern lässt selbst die frommsten Pilger nicht überallhin ein. Wer das versucht, wird schnell die Schweizer Garde kennenlernen-
Wir Menschen haben nicht überall freien Zugang. Das muss man sich in unserem freien Land immer einmal wieder bewusst machen.
Wir Menschen stoßen relativ schnell an Grenzen, die wir nicht überwinden können.
Diese allzu menschliche Erfahrung gibt uns heute die Möglichkeit, eine Eigenschaft Jesu besonders kennenzulernen.
Wir sind gerade in die Passionszeit eingetreten. 40 Tage bis Ostern steht uns das Leiden und Sterben Jesu besonders vor Augen.
Und es sind bekannte und eindrückliche Bilder und Motive von Jesus, die uns da traditionell vor die Augen treten:
Jesus mit der Dornenkrone, O Haupt voll Blut und Wunden, Jesus als König mit dem Purpurmantel, den ihm die Soldaten des Pilatus umhingen, Jesus als Lamm Gottes, das das eigene Blut vergießt, damit für andere Sühne geschaffen wird, Jesus als der starke, souveräne Held, der selbst am Kreuz noch für seine Peiniger betet und an seiner Haltung festhält, Jesus als der gute Hirte, der sein Leben gibt für seine Schafe.
Ich weiß nicht, welches ihr persönliches Bild von Jesus ist, wenn Sie an sein Leiden und Sterben denken.
Ich weiß nicht, welches dieser Bilder Ihnen zuerst in den Sinn kommt, wenn sie das Wort „Karfreitag“ hören.
Ein Bild von Jesus aber möchte ich heute dazusetzen. Ein Bild, das ich noch nicht genannt habe, das aber in unserem Abschnitt des Hebräerbriefs erscheint. Ein Bild, das gar nicht auffällt. Man könnte es schnell überlesen.
Wir haben einen Herrn, heißt es dort, der die Himmel durchschritten hat.
Jesus hat die Himmel durchschritten.
Was heißt das? Gibt es denn mehrere Himmel?
Jesus hat die Himmel durchschritten.
In der Tat geht der Hebräerbrief mit dem Judentum davon aus, dass der Himmel aus mehreren „Schichten“ besteht. Es gibt nicht einfach nur den blauen Himmel mit den Wolken, den wir von der Erde aus sehen. Das wäre ja auch eine kindliche Fehleinschätzung von Gottes Wohnort.
Für den Hebräerbrief sind es einige verschiedene Stufen oder Sphären, die zwischen Gottes Thron und unsere Erde stehen.
Da ist die Ebene der Engel und der Erzengel, da ist die Ebene der Erlösten, da ist das himmlische Jerusalem. Und jede dieser Ebenen ist ein „Himmel“.
Gott wohnt nicht einfach nur „nebenan“ oder über den Wolken. Gott wohnt einige Sphären über uns. Er ist umgeben von mehreren heiligen Sphären und niemand – nicht einmal die Engel – dürfen einfach zu ihm treten.
Und jetzt wird uns vielleicht bewusst, warum es etwas Besonderes ist, wenn Jesus die Himmel durchschritten hat. Er kam von ganz, ganz oben, vom Thron seines Vaters selbst und hat, um zu uns auf die Erde zu kommen, alle diese Schichten zwischen Gottes Ort und unserer Welt durchschritten.
Und diese verschiedenen Sphären hören ja auch in unserer Lebenswelt nicht auf.
Auch wir leben in verschiedenen Sphären. Oben, wenn wir jung sind und es uns gut geht. Oben, wenn wir erfolgreich sind und oben mitschwimmen. Aber wir kennen auch das Unten: Die Sphären in die man abstürzen kann: Die Sphären der Armut oder Einsamkeit. Und wir kennen die unterste Sphäre, in die man abstürzen kann: Den Tod.
Jesus hat alle diese Sphären durchschritten. Er ist nicht nur bis auf die Erde in unsere Lebenswelt gekommen, um schöne Gleichnisse zu erzählen und Wunder zu tun. Er ist bei seiner Geburt in Bethlehem nicht nur in die Sphäre der normalen Menschen in ziemlicher Armut gekommen. Er hat dann am Ende seiner Erdentage – ganz bewusst – die Ebene des Leidens, der Gewalt und des Schmerzes gewählt. Er hat den schlimmsten Absturz erlebt, den ein Menschen erleben kann. Vom beliebten Prediger und gefeierten Held am Palmsonntag zur verratenen und verurteilten Hassfigur und zum angespuckten und gequälten Opfer.
Jesus stirbt und fällt hinab in die Sphäre der Toten.
Ja, es ist richtig, was der Hebräerbrief sagt: Wir haben einen Herrn, der alle Sphären durchschritten hat: Von ganz oben bis ganz unten.
Wer von uns kann das schon?
Wir können vielleicht durch Erfolg etwas aufsteigen im sozialen Niveau. Wir fühlen uns vielleicht manchmal wie im siebten Himmel. Wir stürzen immer wieder ab. Am Ende gelangen wir alle in die Sphäre des Todes.
Aber wir können diese Ebenen nicht aus eigener Kraft durchschreiten.
Das unterscheidet uns von Jesus. Und deshalb brauchen wir ihn.
Wir können nicht einmal die Sphären unseres eigenen Lebens durchschreiten.
Wie viele Menschen sind festgelegt auf ihr soziales Umfeld, aus dem sie nicht herauskommen?
Wie oft sind wir gefangen in unserer eigenen Stimmung? Wie oft schaffen, wir es nicht, auf andere zuzugehen, weil etwas zwischen uns steht?
Wie oft kommen wir an andere Menschen nicht mehr heran, weil sie sich verschlossen haben?
Wie sehr leiden wir darunter, dass wir nicht mehr an die Menschen rankommen, die uns der Tod weggenommen hat.
Es wäre wunderbar, wenn wir einfach diese Sphären durchschreiten könnten! Aber wir können es nicht.
Wir haben aber einen Herrn, der die Himmel durchschritten hat.
Jesus kann es!
Und er tut es nicht nur zum Spaß für sich selbst, dass er von Gottes Thron ganz oben bis in die Hölle herunterfährt und dann wieder zurück zu seinem Vater. Er tut es, um uns mitzunehmen!
Wir kommen aus unseren Sphären nicht raus. Aber er kann uns mitnehmen.
Hinaus aus dem, was uns bindet und festlegt und immer wieder die gleichen Fehler machen lässt. Hinaus aus unserem Kreisen um uns selbst.
(Das ist das, was Sünde bedeutet.)
Jesus nimmt uns hinaus aus unseren Verkrustungen und Urteilen über andere Menschen, denen wir keine Chance mehr geben.
Jesus nimmt uns auch hinaus aus der Sackgasse, in die jedes biologische Leben führt: Aus dem Tod – mit hinauf in seinen Himmel.
Nochmal: Wir kämen aus dem Tod nicht heraus. Aber Jesus hat alle Ebenen durchschritten.
Darum ist es Weihnachten geworden und Karfreitag. Und darum ist es nicht dabei geblieben, und wir feiern und glauben an Ostern und Himmelfahrt. Jesus hat die Himmel auch nach oben hin durchschritten und für uns durchlässig gemacht.
Dieses Bild von Jesus soll uns heute am ersten Sonntag des Passionszeit vor Augen treten.
Der Rettungswagen war zum Krankenhaus gerast.
Man war mitgefahren, man war hinterher geeilt.
Jetzt wird die Bahre mit dem Kranken hastig durch die Korridore des Krankenhauses geschoben. Man eilt nebenher; man will dem Kranken nicht von der Seite weichen.
Aber dann, vor dem OP, heißt es:
Halt, hier dürfen Sie nicht mitkommen.
Hier dürfen keine Angehörigen rein.
Sie müssen draußen warten.
Und man kommt nicht hinein.
Obwohl drinnen das Entscheidende passiert –
man muss draußen bleiben.
Liebe Geschwister,
ob Sie so etwas Dramatisches schon erleben mussten, oder ob Sie so eine Szene nur kennen aus den Krankenhausserien unseres Fernsehens, diese Erfahrung kennen wir, wie ich am Anfang gesagt habe, alle:
Dass wir nicht überall hineinkommen,
dass wir manchmal draußen bleiben müssen,
obwohl wir so gerne hinein wollen.
Das gilt ja nicht nur für den Operationssaal, sondern auch für die Chefetagen unserer Betriebe, für die Hotels der oberen Zehntausend, für die Backstage-Bereiche der angehimmelten Stars.
Da dürfen wir nicht hinein.
Und wir können wahnsinnig darunter leiden, dass wir nicht hineinkommen
in die Büros, wo über unser Gehalt entschieden wird,
in die Lehrerzimmer, wo man unsere Noten macht,
in die medizinischen Labore, wo unsere Krankheiten diagnostiziert werden.
Aber es gehört zu unserem Leben dazu, dass wir an Grenzen stoßen.
Es gibt sie für uns alle, die Türen, die vor uns verschlossen bleiben und nicht aufgehen.
Und wir kommen nicht hinein. Wir haben keinen Zugang.
Aber Jesus kann die Sphären durchschreiten.
Und jetzt wird uns klar, warum der Hebräerbrief Jesus noch einen anderen Titel gibt: Er nennt ihn Hohepriester.
Was ist nun ein Priester?
Ein Priester ist einer, der da hineingehen kann, wo wir nicht hineinkommen.
Ein Priester ist jemand, der Zugang hat zu den Orten, die für uns verschlossen sind.
Ein Priester ist ein Mittelsmann; ein Verbindungsglied zu den Bereichen, die uns verschlossen sind.
Wo wir draußen bleiben müssen, da kommt der Priester rein.
Im Tempel zu Jerusalem da hatte niemand Zugang zum innersten Raum, zum sogenannten Allerheiligsten – nur der Hohepriester. Er kam überall hin.
Und Jesus kommt heute überall hin.
Zurück noch einmal ins Krankenhaus, vor den OP.
Den Angehörigen bleibt nichts anderes übrig, als draußen zu warten, quälende Stunden zu warten.
Und dann kommt eine OP-Schwester heraus und sagt endlich: Der Patient hat es geschafft. Er ist überm Berg. Sie können jetzt rein zu ihm.
Das, liebe Gemeinde, ist das Evangelium, die erlösende Nachricht.
Das ist Christus, der hineingeht in den OP unseres Lebens, in die Hölle unserer Schuld und unserer Angst, in das Dunkel unseres Grabes und der rauskommt uns sagt:
Es ist gut gegangen. Die Operation war schwer, aber es ist geschafft. Du wirst leben.
Amen.