Prediger 7, 15-18

Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines vergänglichen Lebens:

Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit. 16Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. 17Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit. 18Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.

 

Liebe Gemeinde,

Lebensideale und Lebenserfahrung,

Gerechtigkeitsvorstellungen und Realität,

Glaube und Lebensbilanz: Das passt nicht immer zusammen.

Man kann hohe Ideale haben, man kann auf hohe Werte setzen, man den Glauben sehr ernstnehmen. Aber so oft wird das nicht belohnt mit einem gelingenden, ausgeglichenen beglückenden Leben.

Das was wir glauben und für das wir eintreten, ist so oft nicht das, was andere toll finden, aber es ist oft nicht das, was sich auszahlt.

Das ganze Leben lang für andere da gewesen: Im Alter selbst allein gelassen. Immer gesund gelebt: Aber trotzdem früh von einer Krankheit befallen.

Da hat man sich in einem Projekt engagiert, und dann bekommt man noch eins auf den Deckel.

Immer anständig gelebt, aber dennoch üble Schläge einstecken müssen.

Das Schicksal geht nicht auf, liebe Gemeinde, das haben schon viele erfahren müssen, auch unter uns.

Wer christlich lebt, ist damit nicht automatisch sicher und beschützt. Wir wünschen uns das; wir gehen vielleicht unbewusst davon aus. Aber es geht nicht auf. Leider.

Lebensideale und Lebenserfahrung: Mein Triumphieren und Verzagen. Das geht oft spannungsvoll auseinander.

Der heutige Sonntag widmet sich dieser Spannung.

Die Seite der Lebenserfahrung ist der Bibel nicht fremd.

Das Alte Testament hat sogar eine ganze Menge Bücher, die voll sind von dieser Lebenserfahrung. Wir nennen das Weisheitsliteratur. Hiob, Sprüche, Prediger Salomo: Diese Bücher sind so etwas wie gesammelte und konzentrierte Lebenserfahrung.

Deren weise Beobachtungen stimmen bis heute. Wir kennen die bekannten Verse:

Alles hat seine Zeit. Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit (Koh 3,4).

Wir kennen die poetische Schönheit dieser Schriften.

Es ist nichts Neues unter der Sonne (Koh 1,9). Alle Wasser laufen ins Meer (1,7). Eine Generation vergeht, eine neue kommt (1,3).

 

Das sind alles kluge, nüchterne, realistische Erfahrungen.

Wer denkt, die Bibel bestehe nur aus entrückten Jenseitsvorstellungen und idealistischen Prophetensprüchen, irrt sich.

Die alttestamentliche Lehre hat sich gewissermaßen selbst korrigiert. Das macht ihre Stärke aus.

Ältere Texte sagen: Wer die Gebote Gottes hält, wird sicher und lange leben. Wer sich an Gott hält, wird sicher wohnen.

Aber dieser Tun-Ergehens-Zusammenhang ging auch schon damals nicht auf. Die weisheitlichen Schriften des Alten Testaments halten das fest. Diese Ehrlichkeit und Nüchternheit – innerhalb der einen Heiligen Schrift! – ist bemerkenswert.

Unser Abschnitt heute hält das deutlich fest:

Ein Gerechter kann auch zugrunde gehen in seiner Gerechtigkeit; und ein Gottloser kann lange und satt in seiner Bosheit leben.

Das kennen auch wir; und das sehen wir tausendfach in der Geschichte.

Die Bösewichte haben ein langes unbeschwertes Leben und die Guten werden krank und sterben früh.

Für alle diese weisheitlichen Beobachtungen muss man eigentlich gar nicht religiös sein. Dafür muss man nicht einmal zu einer bestimmten Religion oder Kultur gehören. Diese Beobachtungen, oder anders: diese Lebenserfahrung findet sich überall auf der Welt.

Warum steht sie aber im Alten Testament? Warum hören wir sie in der Kirche?

Die weisheitlichen Schriften sind erschreckend gottlos. Im engen Sinne des Wortes: Sie gehen davon aus, dass wir in diesem Leben über weite Strecken ohne Gott, ohne klare Belohnung, ohne offensichtliche Richtigkeit zurechtkommen müssen. Hiob ist das beste Beispiel dafür.

Wir müssen unser Leben fern von Gott und oft scheinbar gegen Gott hinkriegen.

Gehört solche radikal nüchterne und säkulare Literatur überhaupt in die Heilige Schrift?

 

Nun, alle weisheitlichen Schriften, egal wie nüchtern sie sind: von der Gottesfurcht weichen sie nicht ab. Hiob stellt alles in Frage, aber nicht Gott selbst.

Unser Abschnitt aus dem Prediger Salomo heute sagt, dass es dem Gerechten nicht besser geht, aber er rät zur Gottesfurcht.

Mit Gott wird gehadert, aber er wird nicht geleugnet.

 

Das zeichnet die alttestamentliche Weisheit aus, dass sie nicht in blanken Zynismus oder enttäuschten Atheismus verfällt wie so viele alte und neue Philosophien. Und wer wollte es ihnen verdenken!

Unser Abschnitt heute verzweifelt nicht am Leben, noch gibt er Gott auf.

Er gibt einen weisen Rat. Und der ist bemerkenswert:

Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.

Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit

Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen, dass ein Bibelwort uns dazu auffordert, nicht zu gerecht zu sein!

Übertreib es nicht mit deinem Gehorsam, deinem Anstand, deiner Gerechtigkeit!

Sei aber gleichzeitig nicht allzu gottlos.

 

Hier wird uns weise geraten, beide Extreme zu meiden: Die vollkommene Gerechtigkeit und die hemmungslose Gottlosigkeit. Wer es mit beidem übertreibt, wird nicht glücklich.

Das können wir vielleicht nachvollziehen. Wer sich ständig moralisch müht, sich ständig hinterfragt, ständig perfekt sein will, der macht sich kaputt.

Und wer sich ohne Rand und Band gehen lässt, der kommt auch unter die Räder.

Also: Vermeide die Extreme!

In der Mitte liegt das rechte Maß. In der Mitte liegt holdes Bescheiden.

 

Das ist weise. Das klingt ausgewogen und fromm.

Aber das ist ja keine Erfindung des Glaubens. Auch die alten Griechen riefen im Apollotempel von Delphi zum rechten Maß auf (medèn ágan!) und Aristoteles sprach von der „goldenen Mitte“.

 

Diese Weisheit teilt die Bibel mit vielen Kulturen.

 

Es bleibt aber noch eine Prägung, die eine Besonderheit, einen Mehrwert hat.

„Es ist gut, wenn du dich an das eine hältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“

 

„Übertreibe es weder mit dem einen, noch mit dem anderen.“ Aber dann wird nicht die Mitte an sich (und damit die Mittelmäßigkeit) gefeiert, sondern dann heißt es:

Wer Gott fürchtet, geht aus allem heraus.

Dieser Satz verdient besondere Aufmerksamkeit.

Wer Gott fürchtet, geht aus allem heraus.

 

Wer sich an Gott hält, kann nicht ins eine ohne andere Extrem verfallen.

Wir sich an Gott hält, entgeht dem Dilemma zwischen Idealismus und Verzweiflung.

Wer Gott fürchtet, geht aus allem heraus.

 

Aber ich möchte diesen Satz auch noch ganz anders verstehen.

Wer Gott fürchtet, der kommt da raus: Aus dem System unserer Welt von Abhängigkeiten und Zwängen, aus der Spannung zwischen den eigenen Idealen und der eigenen, immer wieder erschreckenden, Mittelmäßigkeit.

Wer Gott fürchtet, der kommt da raus: Aus dem weltlichen System von Leistung und Belohnung, Arbeit und Würdigung, das ja nie ganz aufgeht.

Wer Gott fürchtet, der kommt da raus: mit Luther gesprochen aus dem Reich zur Linken mit all seinen politischen Notwendigkeiten und Regeln schon jetzt hin in das Reich zur Rechten in der nur Gottes Zuspruch und seine heilende Kraft zählt.

 

Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner vollkommenden Gerechtigkeit.

Jesus hat dieses Schicksal in seiner vollen Wucht erlebt.

Seine Güte, Gerechtigkeit und Perfektion brachten ihn ans Kreuz.

Aber aus alledem ging er – wie der Prediger Salomo so prophetisch schön sagt – heraus.

Heraus aus dem Grab, in das man ihn legte.

Heraus aus dem Vergessen, das man über ihn legen wollte.

Heraus aus der Bedeutungslosigkeit, in die ihn bis heute viele stürzen wollen.

Wer Gott fürchtet, geht aus allem heraus.

Dieser Satz findet in Jesus sein schönstes Vorbild und in seiner Auferstehung seine klarste Umsetzung.

So wird uns heute, 70 Tage vor Ostern, der nüchterne Rat des Predigers zum prophetischen Hinweis auf die Auferstehung.

Jesus geht aus allem raus. Das ist wahr.

Und das Gute ist: Er nimmt uns mit.

Amen.

Septuagesimae – Pfr. Dr. Jonas