Römer 14, 7-13

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite. 

 

Liebe Gemeinde,

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“: Das Leben des Christenmenschen ist ein Leben in der Beziehung. In der Beziehung zu Gott, vor allem. Denn von hier aus hat alles sein Ursprung. In der Beziehung zu Gott öffnet sich die Seele, und empfängt Liebe und Glauben. Und nachdem sie diese Gaben erhalten hat, fühlt sie das Bedürfnis, mit Liebe zu antworten. In dieser Liebe verwirklicht sich die Gemeinschaft mit Gott. Diese Liebe, dieser Glaube bilden die vertikale Achse des Kreuzes, das die Erde mit dem Himmel und das einzelne Geschöpf mit seinem Schöpfer verbindet.

Der Text des Paulus stellt den Glauben in den Mittelpunkt einer Kontroverse über den Verzehr von Fleisch von Tieren, die in heidnischen Zeremonien geopfert werden: Können die Christen von diesem Fleisch essen oder nicht? Einige sagten nein und verurteilten die Christen, die davon aßen. Das sind die „Schwachen“, von denen im Text die Rede ist. Paulus fordert dazu auf, den anderen nicht zu verurteilen. Es ist nicht der Verzehr oder Nichtkonsum von Fleisch, das den Götzen geopfert wurde, der einen guten Christ macht.

Das Wesentliche ist die vertikale Achse des Kreuzes: der Glaube, der mit Gott vereint.

Und den Glauben kann nur Gott beurteilen.

Wie das geschieht, wird uns vom Matthäusevangelium erklärt. Die Szenerie ist die der Endzeit. Jesus kommt wieder und fragt jeden von uns, was wir für die Schwächsten getan haben: für die Hungernden, die Durstigen, die Fremden, die Armen, die Kranken, die Gefangenen.

Das Kreuz hat nämlich auch einen horizontalen Arm: den Arm der Liebe, der Brüderlichkeit mit anderen Christen und der Glaubenspraxis.

Aufgabe des Glauben besteht nicht darin, den Glauben der Anderen zu beurteilen. Der Glaube muss von Werken ergänzt werden: Essen und Trinken dem Anderen geben, ihm zuzuhören, ihn schützen, ihm helfen, ihn annehmen und sich für ihn kümmern.  Das bedeutet, versuchen, zu verstehen, was der andere braucht, seine Bedürfnisse zu erkennen und ihm zu helfen. Wir wissen, dass der andere auch von Gott geliebt wird, so wie jeder von uns von Gott geliebt wird.

In den schwachen, hilfsbedürftigen Menschen begegnen wir Gott auch auf einer anderen Ebene: in Jesus. In Jesus hat Gott sich entschieden, nicht als mächtige Person in die Welt zu kommen, die die Logik der Macht der Welt benutzt, um nach oben zu gelangen, sondern als Gott, der  den Schwächeren helfen will, d.h., denen helfen, die alleine nicht zurechtkommen, und denen helfen, die sterben könnten, weil sie von der Gesellschaft ausgeschlossen sind.

Gott in Jesus kennt die Logik der Welt, aber er hebt sie auf. Denn nur wenn man die Regeln der Welt umkehrt, kann man die Menschen von den vielen Ketten befreien, die ihr Leben hindern. Jesus tritt nicht als Führer von Armeen auf, sondern als Freund und Diener; als Arzt, der gekommen ist, um die Kranken zu heilen; als Lehrer, der vor allem jene Studenten ermutigen will, die mit dem Programm etwas im Rückstand sind.

Wenn wir also die Nächstenliebe ausüben, können wir den Glauben in seiner ganzen Fülle leben, indem wir Gott im anderen begegnen und mit der Liebe, die Gott uns geschenkt hat, für ihn handeln.

 

Dann verstehen wir auch, dass es eine Zeitverschwendung ist, andere zu verurteilen denn das bringt uns dazu, unsere Energie davon abzuhalten, das zu tun, was wirklich getan werden muss.

 

So begegnen wir in den Schwächsten unserem Herrn, der sich entschieden hat, unsere Schwäche zu teilen. Unser Herr, der mit uns Menschen Hunger, Durst, Einsamkeit, Diskriminierung und Ablehnung geteilt hat.

Und jedes Mal, wenn wir eine Geste der Solidarität machen, dann erkennen wir, dass Freundlichkeit subversiv ist, in einer Welt, die auf Ungerechtigkeit und Egoismus basiert.

Trotz allem, was uns bezweifeln lässt, dass wir durch Liebeshandlungen etwas erreichen können.

Die Masse der menschlichen Misere in der Welt erscheint uns schwierig, wenn nicht unmöglich zu lösen.

Aber die kleinen Liebesakte, die wir üben, sind nicht umsonst. Ein Sandwich zu geben, löst nicht das Problem des Hungers in der Welt; aber es hilft dieser Person in diesem Moment, an diesem Tag, um den nächsten Tag mit etwas mehr Nahrung für Körper und Seele zu erreichen. Ja, auch für die Seele: Brötchen nähren den Körper; Freundlichkeit nährt die Seele.

Einen Kranken zu besuchen, macht ihn nicht wieder gesund.  Aber er fühlt, dass er geschätzt und geliebt ist und nicht der Einsamkeit überlassen wird.

Den Fremden willkommen heißen, das bedeutet, dass wir ihn nicht als eine Gefahr  sehen, sondern als  für einen Wanderer wie wir halten, der die Reise im Leben so macht, wie er kann.

Das göttliche Urteil, das uns unser heutiger Text vorlegt, ist ein konkretes Urteil über konkrete Handlungen. Gott schenkt uns den Glauben und die Liebe, damit wir daraus etwas Gutes für die Welt machen können, die er liebt, und für die Geschöpfe, die darin leben. Angefangen bei den Menschen. Angefangen mit den Dingen, die uns von Tag zu Tag möglich sind. Als Individuen, aber auch als Gemeinde.

So verändern wir die Welt nicht auf einmal. Doch machen ein Stück der Welt für jeden, dem wir helfen, lebenswerter.

Natürlich scheint es manchmal, als ob das ganze Böse und die Armut der Welt unbesiegbar sind. Wie hart die Realität der menschlichen Existenz ist, das haben uns die bitteren Worte des Hiob in Erinnerung gerufen: “Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.”

 

Manchmal fühlt sich im Leben wie bei einer Wanderung durch die Wüste. Aber auch in der Wüste gibt es Oasen. Unsere Aufgabe als Christen ist es, durch Freundlichkeit und Nächstenliebe kleine Oasen der Erfrischung während dieser langen Reise in einem Gebiet zu schaffen, von dem wir sehr wenig wissen.

Die kleinen Taten der Freundlichkeit, die wir tun, können fast sinnlos erscheinen angesichts des großen Schmerzes und der vielen Bosheit, die es immer in der Welt gibt.

Aber sie sind nicht nutzlos für den Empfänger.

Und aus Gottes Sicht sind sie nie nutzlos.

Ein afrikanisches Märchen macht das deutlich. Es gibt einen großen Waldbrand und alle Tiere rennen davon. Plötzlich, sieht ein Löwe einen Kolibri, der gegen die Fluchtrichtung der anderen Tiere fliegt. Der Kolibri hat einen Wassertropfen im Schnabel. Der Löwe fragt zum Kolibri: „Wo gehst du hin? Dort brennt es!“. „Ich bringe meinen Wassertropfen mit, um das Feuer zu löschen“, erklärt der Kolibri. „Was soll das schon bringen, dein Tropfen?!“ sagt der Löwe. Und der Kolibri: „Ich mache meinen Teil“. Dann lässt der Kolibri das Wasser ins Feuer fallen und holt sich noch mehr aus dem Teich. Dann machen auch die anderen Tiere mit, indem jeder zum Teich  geht und Wasser holt, um das Feuer zu löschen. Mit gemeinsamer Aktion, wird der Brand am Ende gelöscht.

Wenn wir handeln, so sind wir nicht allein. Wenn wir leben, so sind wir nicht allein. Und aus Gottes Sicht hat jeder Akt der Freundlichkeit, der Solidarität, der Liebe sein Gewicht, seine Rolle, seine Bedeutung. Und vor allem macht es Sinn.

Wenn wir denken, dass die kleinen guten und netten Dinge des täglichen Lebens keinen Sinn machen, sollten wir uns diese beiden Überlegungen merken.

Erste Überlegung: Die freundliche Handlung, die wir vollziehen, ist für diejenigen sinnvoll, die davon profitieren. Zweitens, tut es uns gut, auch etwas Gutes zu tun. Und drittens ist es das, was Gott von uns erwartet.

Zweite Überlegung: Wenn wir durch dieses Leben gehen, sehen wir die Dinge aus der Perspektive der Erde. Aber Gott sieht unser Leben aus seiner Perspektive und weiß, was für einen Plan das Leben  aller Meschen zusammen bilden.

Wir hoffen, dass er uns eines Tages die Geschichte der Menschheit zeigen wird, die seiner Führung gefolgt ist. Möge der Herr weiterhin unsere Schritte auf seinem Weg leiten.

Amen.

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs – Prädikantin Anna Belli