Micha 4, 1-5
In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des Herrn Zebaoth hat’s geredet.
Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!
Liebe Gemeinde!
Mit dem Monat November und am Ende des Kirchenjahres wird unser Blick nachdenklich und richtet sich auf das Jenseits: Was kommt am Ende der Zeiten? Was kommt am Ende des Lebens? Was kommt nach dem Tod?
Das scheinen typisch christliche Fragen zu sein, die sich ein „normaler“ Mensch gar nicht stellt. Geht es nicht viel mehr darum, sich im Jetzt und Hier zu orientieren? Sollte man die Frage nach dem Jenseits, nach einer fernen Zukunft, nach einem Leben nach Tod nicht besser verdrängen und sich ganz und gar für die Gegenwart einsetzen?
Sind die Probleme unserer Welt nicht viel zu drängend, um sich Zeit zu nehmen für Jenseitsvisionen und Todesspekulationen? Sollten wir nicht viel weniger über den Himmel nachdenken, als vielmehr diese Erde praktisch zu gestalten?
Wir Christen mit unserem Glauben und unseren schönen Liedern vom „Kommen des Gottessohns“ und vom „ewigen Advent“ sind auf den ersten Blick so weltfremd, dass uns schon lange die Kritik trifft:
Diese Christen fliehen in geistige Vorstellungen und Träume, anstatt sich den Herausforderungen des echten Lebens zu stellen!
Krieg tobt in Ländern, die mit uns zu tun haben. Das Klima entwickelt sich in besorgniserregender Weise. In unserer Gesellschaft fehlt Gerechtigkeit und ein guter Umgang miteinander. Bisher angenommene politische Stabilitäten fliegen uns um die Ohren.
Und die Christen reden von Jesus, der auf den Wolken am Himmel wiederkommt und von einer Herrlichkeit im Jenseits!
Sollten wir nicht eher die Probleme von jetzt und heute anpacken?
Jenseits oder Diesseits? Ewigkeit oder Jetzt und Hier? Vergeistigt oder tatkräftig?
Diese Alternative stellt sich gar nicht, liebe Gemeinde!
Die großartigen Worte des Propheten Micha lassen diese Alternative gar nicht zu. Sie sprechen von den letzten Tagen und vom Frieden. Sie reden von Gott und vom Leben der Völker.
Und sie tun das nicht erst seit den Anfragen moderner Religionskritiker, sondern seit über 2500 Jahren.
Glaube an Gott und Gestaltung der Gegenwart schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ganz im Gegenteil: Sie gehören zusammen!
Der kleine Prophet Micha, dessen Buch es nur auf sieben Kapitel und ganz wenige Seiten in unseren Bibeln bringt, schafft es immer wieder, mit seinen großartigen Sprachbildern ewige Wahrheiten auf den Punkt zu bringen und in solche Worte zu fassen, die im Gedächtnis hängen bleiben:
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Mi 6,8). So fasst Micha seine Vorstellung von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, zusammen.
„Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist“ (Mi 5,1). So werden wir an Weihnachten wieder hören, dass Gott zielsicher das Kleine und das von allen Übersehene auswählt.
Und heute:
„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln.“ (Mi 4,39). Wie ein Hammerschlag trifft dieses Wort in seiner Prägnanz und Botschaft.
Schwerter werden nicht mehr gebraucht. Das kostbare Metall wird umgeschmiedet und umgebogen, um es für die Ackerarbeit zu nutzen. Ressourcen werden für die Ernährung genutzt und nicht für den Krieg!
Was für eine uralte und hochaktuelle Vorstellung!
Das Bibelzitat von den Schwertern, die zu Pflugscharen werden, hat eine bemerkenswerte Wirkungsgeschichte in Deutschland entfaltet.
1959 übergab die Sowjetunion der UNO in New York eine Skulptur, welche der Künstler Jewgeni Wutschetitsch geschaffen hatte. Ein Mann schmiedet ein Schwert um zu einem landwirtschaftlichen Gerät.
1980 wurde diese Skulptur zum Symbol der Friedensbewegung in Ost und West. Das Motiv wurde mit den Worten „Schwerter zu Pflugscharen“ betitelt.
Vor allem in der DDR wurde das Motiv als Aufnäher bei Christen beliebt.
1978 hatte die SED das Pflichtfach „Wehrerziehung“ an DDR-Schulen eingeführt. Darauf luden evangelische Jugendgruppen in der DDR mit einem Abbild der sowjetischen Skulptur zusammen mit dem Schriftzug „Schwerter zu Pflugscharen“ zum Gottesdienst am Buß- und Bettag des Jahres 1980 ein.
1982 wurde der Aufnäher verboten. Schullehrer, Volkspolizei und Betriebsfunktionäre forderten die Entfernung der Aufnäher.
Wenn Jugendlich die Aufnäher nicht entfernten, wurden sie aus Hochschulen und Oberschulen entlassen, erfuhren Strafversetzung, Nichtzulassung zum Abitur, Verweigerung der gewünschten Lehrstelle, Schulverbot oder Hinderung beim Betreten ihres Betriebs.
Pädagogen, Zoll und Polizisten schnitten die Aufnäher aus Jacken heraus, wenn Jugendliche dies nicht freiwillig taten, oder beschlagnahmten die Aufnäher oder ganze Kleidungsstücke.
Das DDR-Regime war sich sicher: Die Botschaft „Schwerter zu Pflugscharen“ sei schädlich; die Aufnäher seien westliche Importe.
An die Stelle des biblischen Slogans trat die Formel: „Der Friede muss bewaffnet sein.“
Umso spektakulärer war die Aktion des Kunstschmieds Stefan Nau im Lutherjubiläumsjahr. Am 24.9.1983 schmiedete er im Lutherhof zu Wittenberg ein Schwert zu einer Pflugschar um.
Das Wort Michas hat in seiner Kraft die Kirchen in der DDR bis hin zur friedlichen Wiedervereinigung geprägt.
Friedensinitiativen berufen sich immer wieder auf die Geschichte dieses Worts, der Skulptur und des Ansteckers.
Allein schon diese Wirkungsgeschichte zeigt, wie kraftvoll und aktuell ein uraltes Zitat aus der Bibel sein kann, und wie stark Gottesglaube und Gestaltung von Gesellschaft zusammenhängen.
Wir haben mit diesem Bild Michas heute ein wahres Juwel biblischer Tradition vor uns.
Umso wichtiger, dass wir uns auch den Zusammenhang gut anschauen, denn das Bild von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, steht nicht isoliert da, sondern ist ein Mosaiksteinchen eines großen Gesamtbildes von dem, was am Ende der Zeiten geschieht:
Gottes Berg, der Tempelberg in Jerusalem, wird höher sein als alle Berge der Welt.
Alle Völker werden herbeilaufen und nach dem Wort des Gottes Israels fragen.
Und Gott wird alle Völker richten und lehren.
Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. Dann wird niemand mehr den Krieg lernen. Dann werden alle in Ruhe unter ihrem Feigenbaum wohnen.
Das Bild vom Tempelberg, der höher ist als alle Berge der Erde, ist geographisch gesehen, unrealistisch. Der Tempelberg ist ein kleiner Hügel, der sogar in der direkten Umgebung Jerusalems übertroffen wird.
Wichtig ist die Absicht dieses Bildes: Gott steht über allen anderen Dingen und für alle sichtbar. Alle müssen ihn sehen. Alle können ihn sehen.
Der Gottesglaube ist nicht nur eine Haltung von wenigen Gläubigen, sondern ist ein objektives Erkennen für alle.
Wie oft leiden wir darunter, dass man unsere Bindung an Gott als Dummheit, Naivität oder Manipulation deutet.
„Wenn ihr richtig nachdenken würdet, wenn ihr wissenschaftlich denken würdet, wenn ihr euch nicht von Ängsten und Wünschen leiten lassen würdet, dann gäbe es keinen Gott.“
Glaube ist die Einbildung einzelner schwacher Menschen. Das ist heute allgemein verbreitete Meinung.
Am Ende der Zeiten, sagt Micha, werden alle Menschen die Realität Gottes sehen. Und die Heiden werden herbeieilen und nach ihm fragen.
Dem Bild vom Gottesberg, der sichtbar für alle erhaben ist, entspricht das Bild von der Wiederkunft Jesu: Der Menschensohn wird kommen auf den Wolken des Himmels. Dabei geht es nicht um die Wolken; dabei geht es nicht um eine naive Vorstellung.
Es geht darum, dass Jesus dann für alle sichtbar und erhöht ist.
Dann kann es keine Zweifel, keinen Unglauben und keine Fragen mehr geben. Glaube wird Schauen. Verheißung wird Realität. Unglaube wird unmöglich.
Das wollen uns die biblischen Schilderungen vom Ende sagen.
Und diese allgemeine Erkenntnis Gottes und seiner Gebote ist die Grundlage für den Frieden und die Gerechtigkeit und die Ruhe, die Micha uns beschreibt.
Es ist nicht das Handeln des Menschen, das zum Frieden führt, sondern die Erkenntnis Gottes.
Es ist nicht die moralische Weiterentwicklung des Menschen, die zum Frieden führt, sondern die Erkenntnis Gottes.
Es ist nicht der technische Fortschritt des Menschen, der zum Frieden führt, sondern die Erkenntnis Gottes.
So optimistisch Michas Endzeit-Vorstellung ist, so kritisch ist sie mit uns Menschen, die seit 2500 Jahren trotz massiver Fortschritte keinen Millimeter näher am Frieden sind, als in Michas Tagen.
Es wird nicht gehen ohne eine umfassende Erkenntnis Gottes.
Es muss Weisung ausgehen von Zion und des Herrn Wort von Jerusalem.
Sonst wird der Mensch immer wieder an die Wand laufen, wie eine Maus im Labyrinth.
Und so eindeutig Micha an der umfassenden Bedeutung des einen Gottes Israels festhält, so wenig werden die anderen Völker abgestraft.
Es kommt nicht zum Heiligen Krieg, indem dem der Gott Israels alle Ungläubigen und alle, die ihn nicht kannten, abstraft oder grausam vertilgt, sondern es kommt dazu, dass der eine Gott Israels für alle anderen erkennbar und zugänglich wird.
Die Heiden werden nicht verdammt, sondern gewonnen:
Sie rufen: „Kommt, lasst und ziehen zum Hause des Herrn.“
So streng und exklusiv Israel an seinem Glauben an den einen Gott festhält, so universal und inklusiv und einladend ist diese Vorstellung:
Der Gott, der ein einzelnes Volk auserwählt hat und mit ihm Geschichte schreibt, der wird für alle Völker erkennbar, zugänglich und überzeugend.
Israel bleibt nicht bei sich selbst, sondern Israel wird zum Zeugen Gottes für die ganze Welt.
Und die Richtigkeit und Wahrheit dieser einen Form von Glauben setzt sich nicht durch mit Gewalt, durch Untergang aller anderen, sondern dadurch, dass diese eine Religion in einer Masse von Weltanschauungen und Kulturen für alle erkennbar und attraktiv ist.
Das alles nur, weil der Berg des Herrn höher sein wird als alle anderen Erhebungen.
Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln!
Am Ende unseres Abschnittes steht deshalb nicht die Aggression der Gläubigen gegen die anderen, sondern eine große Gelassenheit:
„Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!“
Bleiben wir nur unserem Gott treu. Lassen wir ihn nur machen! Sollen die anderen Völker doch anderen Göttern nachlaufen, sollen andere doch Atheisten sein oder sich gar keine Gedanken machen – wir aber wollen wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes. Er wird sich schon durchsetzen. Wir können nicht mehr tun, als ihn zu bezeugen und mehr verlangt er auch nicht von uns!
Wer sagt, der biblische Glaube sei – wie jede Religion – der erste Schritt von Intoleranz und Aggression, der hat nicht diesen Abschnitt des Propheten Micha gelesen. Ich sage es noch einmal: Dieser Text entstammt nicht neuzeitlichen Friedenskonferenzen, sondern dem uralten biblisch bezeugten Glauben Israels.
Eine wichtige Beobachtung am Ende: Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass in unseren so einschlägigen und wirkungsvollen Sätzen bei Micha kein einziges Mal das Wort „Frieden“ vorkommt?
Diese Verse, die so viel von Versöhnung, Gerechtigkeit und Ruhe zwischen Menschen und Völkern sprechen, haben nicht einmal das Wort „Frieden“ verwendet.
Dieser Abschnitt, der in tausenden von kirchlichen Friedensbotschaften und Friedensgebeten verwendet wurde, nimmt das Wort „Frieden“ gar nicht in den Mund!
Das muss uns schon etwas sagen.
Es geht nicht darum, vom Frieden zu reden, ihn als politische Parole ständig vor sich her zu tragen. Es geht nicht darum, große Theorien vom Frieden zu entwickeln und zu beschreiben.
Es geht darum, in kleinen Dingen das zu tun, was Gott von uns erwartet.
Friede wird nicht erreicht, wenn wir über ihn reden. Friede wird dann erreicht, wenn Gottes Erkenntnis uns leitet und unsere kleinen Taten seinen Geboten entsprechen.
Ganz entsprechend sagt Jesus in der Bergpredigt auch nicht:
„Selig sind, die vom Frieden reden.“, sondern: „Selig sind, die Frieden stiften.“ Es geht ums Handeln. Es geht ums Tun. Es geht um kleine Schritte, die jede und jeder von uns heute, jetzt und hier schon tun können.
Wir wissen, dass Gott der Herr über alle Dinge ist.
Wir wissen, dass Jesus am Ende der Zeiten über unserem Leben und über allem steht.
Aber noch steht der Berg des Herrn nicht so hoch, dass alle ihn sehen können. Noch kommt Jesus nicht auf den Wolken, dass alle auf ihn schauen.
Aber bis dahin wollen wenigstens wir sagen:
„Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und in seinen Pfaden wandeln!
Andere mögen andere Götter haben oder anders denken, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!“
Damit ist ein Friede da, der gar kein eigenes Wort braucht, der schon im Kleinen überzeugt und der mit unserem Tod nicht aufhört, sondern erst richtig losgeht. Amen.