Liebe Schwestern und Brüder,

die ich Sie herzlich grüße, da ich mich freue, endlich einmal wieder bei Ihnen
zu sein und mit Ihnen Gottesdienst feiern zu dürfen,
einen Ausschnitt aus der Bergpredigt nach dem Matthäusevangelium haben wir gehört: „Ich aber sage euch,
dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem
biete die andere auch dar. […] Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir
borgen will. […] Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“.
Diese Passage, liebe Schwestern und Brüder, gehört zu den fast sprichwörtlich gewordenen Texten der Bibel
und sie hinterlässt einige Fragen: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: Ist das nicht eine „alte“ jüdische Ethik?
Eine vermeintlich alte Ethik, die Jesus mit einer neueren überwunden hätte? Dann eine andere Frage: Ist die
vermeintlich „neue“ Ethik Jesu überhaupt praktikabel? Kann man es leben, zur rechten auch noch die linke
Wange hinzuhalten, um Schläge zu erhalten – sollte man sich klaglos den Tätern aussetzen, um freiwillig
Opfer zu werden? Ist das Christsein? Und drittens: Könnte man solche Maßstäbe in der politischen Realität
überhaupt gebrauchen? Otto von Bismarck (1815–1898) meinte bekanntermaßen, mit der Bergpredigt ließe
sich keine Politik machen.
„Ich aber sage euch …“ Zwei Themen sind es, die wir heute aus der Bergpredigt hören: Die Frage nach der
Vergeltung und die Frage nach dem Umgang mit den Feinden:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge“ und „Zahn um Zahn“ (2. Mose 21,24; 3. Mose 24,21; 5. Mose
19,21). Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte
Backe schlägt, strecke ihm auch die andere hin. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen,
dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, geh mit ihm zwei. Gib dem, der
dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich
aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder werdet eures Vaters im
Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und
wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?
Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“
Die sogenannte Bergpredigt, liebe Schwestern und Brüder, bringt auf den Punkt, dass es Jesus nicht um das
bloße Erfüllen von Regeln geht. Regeln lassen sich auslegen, und sie lassen sich auf den eigenen Vorteil hin
auslegen. Aber Jesus spricht von mehr als Regeln: von Liebe. Das, was hier Liebe hießt, zeigt sich gar nicht
blumig, sondern ist radikal und provokant. Die Liebe gibt mehr, als was in Gesetzen und Regeln gefordert
ist.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lautet jene Regel, die sprichwörtlich geworden ist und die, wenn ich das
richtig wahrnehme, gemeinhin abgelehnt, belächelt oder kritisiert wird. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,
sagt man, das sei doch ein Maß der Grausamkeit, das wir im Christentum überwunden und erst recht seit der
Aufklärung hinter uns gelassen hätten. Im allgemeinen Bewusstsein wird diese Regel nicht selten als „jüdi-
sche Ethik“ missverstanden, als eine vermeintlich „alte“ – jüdische – Ethik, der Jesus eine vermeintlich
„neue“ – christliche – Ethik gegenübergestellt hätte. Damit wird sie abschätzig beurteilt, als wäre es der ge-
waltvolle, unterentwickelte Ansatz einer Gesetzlichkeit, gegen die Jesus etwas Anderes, etwas Neues ge-
bracht hätte und von der wir im Christentum, erst recht im evangelischen und am besten noch im deutschen,
längst nicht mehr reden müssten.
Derartige Schablonen wurzeln tief im kulturellen Gedächtnis. Wenn ich mit meinen Studenten in Seminaren
und in mündlichen Prüfungen Bibeltexte thematisiere, die für die Begründung von Nächstenliebe und von
Diakonie wichtig sind, dann bekomme ich nicht selten zu hören, es sei doch Jesus, der die Nächstenliebe ge-
bracht habe. Im Alten Testament habe es Grausamkeit und Vergeltung gegeben, im Neuen Testament dage-
gen Barmherzigkeit und Versöhnung, denn Jesus habe die Liebe gebracht. So behauptete im 19. Jahrhundert
der Hannoveraner Kirchenhistoriker Gerhard Uhlhorn (1826–1901) am Beginn seines Werkes „Die christli-
che Liebesthätigkeit“ (1882–1884): „die Welt vor Christus ist eine Welt ohne Liebe“.1
Doch genau das stimmt nicht. Jenes „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist ein Grundgesetz des Strafmaßes,
das sogenannte Recht der Vergeltung, das bei Gewalt, Verletzung und Beschädigung zur Anwendung kom-
men soll. Wird etwas beschädigt, ein Körper verletzt oder gar getötet, dann soll das Maß der Strafe zur Er-
stattung des Schadens dienen oder wenigstens symbolisch der Schwere der Schuld entsprechen. Dieses Recht
der Vergeltung (ius talionis) soll ein Gleichgewicht herstellen. Es soll schützen vor dem Ungleichgewicht des
übermächtigen Täters gegenüber einem schwächeren Opfer, aber auch dem Ungleichgewicht eines ausufernd
rächenden Opfers gegenüber dem Täter. Privater Rache und Sippenrache wird dadurch ein Riegel vorge-
schoben, wenn ein Richter das Maß der angemessenen Strafe gemäß dieser Regel festlegt. Auch soziale Un-
terschiede spielen für das Strafmaß keine Rolle mehr. Das Recht der Vergeltung kommt in der Tora mehrfach
vor, z.B. „Wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat.“ (3. Mose 24,20) – eine frühe
juristische Absicherung sozialer Gerechtigkeit im antiken Israel.
Das ist eine juristische Form von Nächstenliebe. Die Strafe soll nämlich gerade nicht in Gewalt und Grau-
samkeit ausufern, sondern angemessen bleiben; sie soll einerseits der Härte der Tat entsprechen, aber ande-
rerseits die Vergeltung begrenzen und erst recht Willkür vermeiden. Durch Angemessenheit und Verhältnis-
mäßigkeit soll es nicht zu einer Spirale der Gewalt kommen – ein Problem, das wir seit dem furchtbaren Ter-
ror vom 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen und im Nahen Oste allezeit vor Augen haben. Es
geht bei dieser alten Regel also nicht um unbarmherzige Selbstjustiz, sondern um ein angemessenes Straf-
maß.
Nun betont Jesus in der Bergpredigt wie in einem Refrain: „Ich aber sage euch“. Liebe Schwestern und Brü-
der, stellt er damit der Tora nicht ein anderes Gesetz gegenüber? „Meint nicht, ich sei gekommen, um die
Tora oder die Propheten aufzulösen! Ich bin nicht gekommen, um auflösen, sondern um zu erfüllen.“ (Mat-
thäus 5,17) Nein, die Tora wird nicht durch ein anderes Gesetz ersetzt, sondern sie wird ausgelegt. Jesus be-
tont die Dringlichkeit und die Ernsthaftigkeit, wirklich nach dem Gesetz zu leben und es nicht nur pro forma
zu befolgen. Die Tora ist das, was in unseren Bibelübersetzungen meistens als „Gesetz“ bezeichnet ist. Die
Übersetzung „Gesetz“ klingt verallgemeinernd und abstrahierend, als ginge es um alle möglichen Gesetze
oder eine unklare Summe von Regeln. Konkret ist aber die Tora gemeint, die Fünf Bücher Mose am Beginn
des Alten Testaments.
In unseren evangelischen Denkgewohnheiten haben wir ein Problem. Häufig wird die Tora, das Gesetz Isra-
els, als „gesetzlich“ abgewertet. Sie steht für die Strenge des Glaubens, die man sowieso nicht erfüllen könne
und die immer weiter von Gott weg führe. Gegen das Gesetz stehe dann das Evangelium. Nicht „gesetzlich“,
sondern „evangelisch“ befreie es von Last und Leistung.
„Ich aber sage euch:“ „Ich bin nicht gekommen, sie aufzulösen.“ Ich bin nicht gekommen, einer vermeintli-
chen alten Ethik eine neue, bessere gegenüberzustellen. Wenn Jesus in der Bergpredigt seinen Nachfolgern
sagt: „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ (Matthäus 5,13f), dann heißt das: Nur wenn ihr
die Tora erfüllt, nur wenn ihr danach lebt, könnt ihr Salz und Licht sein. Nicht aufzulösen, sondern zu erfül-
len, das ist sein Auftrag und das ist unsere Berufung. „Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der
Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mat-
thäus 5,20).
„Ich aber sage euch…“. Liebe Schwestern und Brüder, Jesus spricht nicht über die Frage der angemessenen
Vergeltung, sondern auch über den Umgang mit den Feinden. „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstre-
ben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, strecke ihm auch die andere
hin.“ Jesus erwartet von seinen Nachfolgern mehr als Regelkonformität, mehr als das nüchterne Befolgen
von Gesetzen, die schlussendlich auch zu meinen Gunsten ausgelegt werden könnten. So legt Jesus die Tora
aus: Ihr sollt dem Übeltäter nicht in der Weise begegnen, dass ihr bloß auf euer Recht pocht. Deshalb sollt ihr
vollkommen sein wie euer Vater im Himmel, weil ihr nicht Selbstgerechtigkeit übt, sondern Selbstzurück-
nahme. „Ich aber sage euch“: Zahlt nicht zurück, sondern gebt etwas zurück.
Wie aber soll das nun realistisch umgesetzt werden, liebe Schwestern und Brüder? Geht das im alltäglichen
Leben? Was könnte es heißen, auch noch die andere Backe hinzuhalten? Wie weit soll ich gehen? Muss ich
alles ertragen? Und: Könnte man mit der Bergpredigt Politik machen?
Die Beispiele, die Jesus nennt, richten sich offenbar an sozial gering gestellte Personen. Es geht um Men-
schen, die geprügelt werden: „wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt“. Es geht um Menschen,
denen Pfändungsprozesse drohen: „wenn jemand mit dir rechten und dir deinen Rock nehmen will“. Es geht
um Menschen, die gezwungen oder missbraucht werden, bestimmte Leistungen unfreiwillig zu erbringen:
„wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen“. Es sind also Menschen, die Provokationen erleiden. Wie
könnte ihre persönliche Antwort aussehen? Sie sollen einen Schritt weiter gehen, um zu zeigen, wo sie im
Recht sind. Indem sie ihre zweite Wange hinhalten, zeigen sie, wie absurd jenes erste Unrecht war. Indem sie
ihren letzten Mantel geben, wenn auf der Pfändung des ersten Kleides beharrt wird, dann zeigen sie, wie ver-
letzlich sie sind. Die Tora verbietet nämlich, dass der letzte Mantel über Nacht verpfändet wird (2. Mose
22,25f). Wenn Menschen zu einer Leistung gezwungen und zu einem Dienst erniedrigt werden, sollen sie
eine Dienstleistung daraus machen: Auf diese Weise stellen sie die Würde des Dienstleistenden wieder her
und halten den Bedrängern einen Spiegel vor Augen.
Die sogenannten Opfer werden also aktiv. Sie sollen nicht passiv bleiben. Sie sollen vielmehr etwas zeigen,
etwas geben und einen Weg mitgehen. Die sogenannten Opfer sollen ihr Recht zeigen, aber nicht indem sie
mit ihrem Recht den anderen eins auswischen. Sie sollen über das Maß des Rechts hinaus handeln. Sie zei-
gen sich damit verletzlich. Sie geben mehr. Sie gehen weiter.
Beharre nicht nur auf einer Regel, wo du im Recht bist, sondern gehe einen Schritt weiter. Messe nicht zu
knapp, könnten wir die Maxime, die Jesus hier formuliert, zusammenfassen. Sie ist gewaltfrei und hat zum
Ziel, den Gegner weder durch Rache noch durch Recht, sondern durch Gabe und Hingabe zu überwinden.
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“, formuliert der heutige
Wochenspruch aus dem Römerbrief (12,21). Das passt zusammen.
Die Feinde zu überwinden, funktioniert nicht dadurch, dass man sie auslöscht oder indem man sie mundtot
macht oder sie exkludiert und ächtet. Die sogenannten Opfer sollen auch für ihre Feinde beten. Frieden wird
nur, wenn wir den Gegner zu gewinnen versuchen. „Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für
Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonde-
res? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“
Was Jesus hier sagt, provoziert. Er provoziert die sogenannten Opfer, wenn er das selbstbewusste Schenken
von ihnen fordert. Dadurch aber antworten die sogenannten Opfer den sogenannten Täter mit einer Provoka-
tion. Auch diese werden provoziert.
Jesus provoziert und erwartet etwas, das nicht leichtfertig gelebt werden kann. Lässt sich das im alltäglichen
Leben umsetzen, liebe Schwestern und Brüder? Diese Frage einfach mit „nein“ zu beantworten, hieße, dem
Anspruch Jesu aus dem Weg zu gehen und seine Worte als idealistisch ad acta zu legen. Diese Frage aber
einfach mit „ja“ zu beantworten, hieße dagegen, sich selbst unbekümmert sehr viel, zu viel zuzutrauen.
In jeder Situation, in der etwas wie Feindschaft, Rechtsstreit, Opfer-Täter-Konstellation, Streit, Hass oder
Aus-dem-Weg-Gehen entsteht, sollte genau diese Frage wie ein Stachel spürbar werden: Wie kann ich dem
Feind begegnen? Wie kann ich den Gegner zu gewinnen versuchen? Wie kann ich über mein persönliches
Recht hinaus nicht nur auf mein Recht pochen, sondern mehr geben? Messe nicht zu knapp!
Wenn wir genau hinschauen, sehen wir, dass Jesus zunächst keine Anleitung für politisches Handeln gegeben
hatte. Seine Zielgruppe waren Menschen, die bedrängt, ausgenutzt, misshandelt werden. Sein Thema waren
zwischenmenschliche Feindschaften und Rechtsstreitigkeiten. Allerdings liegt genau darin die revolutionäre
Dynamik: Wird die Frage nach der Versöhnung und nach dem Frieden zuerst innerhalb der eignen Gruppe
gelebt, dann gewinnt sie politische Ausstrahlung! Gibt es Menschen, die den Mut haben, die Provokation
Jesu auf sich zu beziehen, dann wird die öffentliche Relevanz deutlich.
Wir sollen, liebe Schwestern und Brüder, wir müssen die provozierende Frage „Wie kann ich dem Feind be-
gegnen?“ aufrecht erhalten. Wir dürfen sie nicht mundtot machen und dürfen uns auch in der Politik nicht
herausreden. Halte deine Wange hin. Bete für deine Feinde. Gewinne den Gegner. Zeige dein Recht, aber
poche nicht darauf, sondern gib. Gib mehr, schenke, geh mit. – Wir dürfen diesen Stachel nicht ziehen und
das „Ich aber sage euch …“ ad acta legen. Es hat das Potential, Frieden zu bewirken.
So lässt sich die Frage, hob mit der Bergpredigt Politik gemacht werden könnte, nicht einfach mit einem op-
timistischen „Ja“ beantworten, aber auch nicht mit „Nein“. Sie sollte wie ein Stachel im Fleisch sitzen und
dazu führen, jeden Streit, jeden Krieg und jede Friedensfrage kritisch zu bedenken.
Der Schöpfer macht keine Unterschiede, liebe Schwestern und Brüder. Er „lässt seine Sonne aufgehen über
Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Wir sollen ebenfalls keine Unterschiede
machen zwischen Guten und Bösen, Freunden und Feinden, Nahen und Fernen, Sympathischen und Unsym-
pathischen. Das provoziert die Täter. Auch die Opfer werden herausgefordert. Jesus will mehr als Regelkon-
formität, die sich auf das vorgegebene Maß des Rechts beruft. Er will, dass wir nicht zu knapp messen, son-
dern über das hinausgehen, was gefordert wird.

21. Sonntag nach Trinitatis – Prof. Dr. Markus Schmidt