Die Zukunft des Christentums

Vortrag zur Eröffnung der 24. Synode

 und anlässlich des 75. Jahrestags der Gründung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien

25. April 2024, Christuskirche Rom

Einen Historiker nach der Zukunft von irgendetwas zu fragen, Eminenz, verehrter Kardinal Fernández, liebe Schwestern und Brüder, ist eine risikoreiche Idee – und ich bin ja zu einem guten Teil meiner Profession Historiker, Historiker des antiken Christentums, um genau zu sein. Einen Historiker nach Zukunft zu fragen, ist insofern eine risikoreiche Idee, als er sich ja eigentlich von Berufs wegen mit der Vergangenheit beschäftigt und nicht mit der Zukunft. Der Historiker kann gleichsam ex post Vergangenheit vorhersagen, deren exakte Kenntnis verloren gegangen ist oder jedenfalls reichlich unklar geworden ist und ein gut Teil seiner Rekonstruktion der Vergangenheit ist Hypothese aus Gründen. So, wie die Vorhersage von Zukunft Hypothese aus Gründen ist, weil noch keine exakte Kenntnis existiert oder vieles reichlich unklar ist. Lange habe ich gedacht, dass diese Strukturanalogie zwischen dem Historiker, der die Vergangenheit rekonstruiert und dem Wissenschaftler, der (wie ein Futurologe) die Zukunft vorhersagt, auch in einem berühmten Diktum des deutschen Frühromantikers Friedrich Schlegel (1772-1829) gemeint ist. Schlegel hat in einem knappen Fragment in der Zeitschrift Athenäum 1798 formuliert, dass „der Historiker … ein rückwärts gekehrter Prophet“ ist. Inzwischen weiß ich, dass Schlegel noch etwas ganz anderes meint: Der Kulturphilosoph geht von einer christlich und theologisch grundierten Geschichtsphilosophie aus und spricht in dem Fragment über einen so gebildeten Historiker, der in die Vergangenheit schaut und, weil er die Vergangenheit als Teil der Heilsgeschichte Gottes ansieht, in dieser Rückwendung auf vergangene Heilsgeschichte zugleich auch einen Blick auf die Zukunft wagen darf, weil die Heilsgeschichte Gottes für und mit seiner Welt ja nicht mit der Gegenwart geendet hat, sondern in die Zukunft voranschreitet. Und es gilt ja auch ganz allgemein: Indem wir etwas beobachten und (immer auch hypothetisch) erklären, wie es geworden ist, intendieren wir zugleich auch Vorhersagen darüber, was daraus werden wird – schon Aristoteles bemerkt, dass man, wenn man ein Musikinstrument vor sich sieht und seine Entstehung aus Holz in der Vergangenheit rekonstruiert, immer zugleich auch im Blick hat, dass dieses Instrument einmal in Zukunft gespielt werden wird. Die Idee von Friedrich Schlegel, dass der christlich grundierte und theologisch versierte Historiker den göttlichen Heilsplan in den Texten und Ereignissen der Vergangenheit studiert, geht im Kern auf den kaiserzeitlichen, aus Kleinasien stammenden und in Gallien wirkenden Bischof Irenaeus von Lyon zurück. In seiner „Widerlegung der Häresien“ schrieb Irenaeus in den achtziger Jahren des zweiten Jahrhunderts, Gott habe „als Architekt einen Heilsplan entworfen“ (fabricationem salutis ut architectus delinians).

Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, über die Zukunft des Christentums zu sprechen – da ich aber weder Jurist noch Soziologe bin, bleibe ich an dieser Stelle nur und nur dann bei meiner Profession, wenn ich im Sinne von Friedrich Schlegel und Irenaeus von Lyon auf die Vergangenheit schaue und von daher über die Zukunft rede, zunächst einmal eher als Historiker und dann auch als ein christlich denkender, theologisch versierter Historiker, der sich nicht scheut, in der Geschichte auch nach der Heilsgeschichte Gottes zu fragen. Natürlich weiß ich, dass insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert die Heilsgeschichte in der evangelischen Theologie in keinem großen Ansehen stand (insbesondere Rudolf Bultmann hat sehr kritisch darüber gesprochen) und natürlich ist mir klar, dass sich im ökumenischen Gespräch an dieser Stelle eine Reihe von Fragen anschließen – vielleicht besteht im Gespräch nach den Vorträgen Gelegenheit, diese Fragen anzusprechen und zu vertiefen. Aber mir liegt daran, in Rom nicht die Diskurse zu wiederholen, die in Deutschland gewöhnlich unter dem Thema „Die Zukunft des Christentums“ zu hören sind und mir ist wichtig, beim Jubiläum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien nicht so zu tun, als spräche ich über die Evangelische Kirche in Deutschland. In den vergangenen fünfundsiebzig Jahren ist hier viel geschehen, was man sich in Deutschland noch kaum vorstellen kann: Ich denke nicht nur an den Beitritt vor allem italienisch-sprachiger Gemeinden und die gewachsene Bedeutung der Zweisprachigkeit in allen Gemeinden, sondern an die durch den Abschluss des Staatsvertrages 1995 nun auch für die Evangelische Kirche eröffnete Möglichkeit, mit einer Unterschrift auf der Steuererklärung acht Promille der schon einbezahlten Einkommenssteuer der ELKI zukommen zu lassen – das alles hat mit der traditionellen Form von Kirchensteuersystem und deutschsprachiger Kirchlichkeit, die ich aus Deutschland kenne, zunächst einmal trotz aller guten Beziehungen zwischen ELKI und EKD sehr wenig zu tun.

In Deutschland werden die meisten Vorträge zur Zukunft des Christentums mit Hinweisen auf die dramatischen Zahlen der Mitgliedsentwicklung (in der Regel mit konkreten Zahlen zur Taufquote und den Austrittszahlen) begonnen, aus denen meistens auch Mutmaßungen über die Gründe sowie Prognosen für die Zukunft der Kirche oder gar des Christentums hierzulande abgeleitet werden. Meist klingt das alles sehr pessimistisch und ein wenig nach Apokalypse. Erstmals im Frühsommer 2019 wurden die damals aktuellen Austrittszahlen des Vorjahres durch Ergebnisse einer Langfristprognose ergänzt, die das Freiburger Forschungszentrum Generationenverträge erstellt hatte. Das Institut sagte damals für das Jahr 2060 eine Mitgliederzahl der evangelischen Kirchen in Deutschland von 10,5 Millionen vor, also würden – wenn alle Annahmen zutreffen und alle Voraussagen eintreffen sollten – halb so viele Menschen wie heute zur Evangelischen Kirche gehören. Für die angenommene Halbierung machen die Forscher neben dem demografischen Wandel vor allem der Rückgang der sogenannten Taufquote (also des Anteils getaufter Menschen an der Bevölkerung), die nachlassende Kirchenbindung und die daher weiter anwachsende Zahl von Kirchenaustritten verantwortlich. Präziser formuliert: Weniger als die Hälfte des Rückgangs lässt sich mit dem demografischen Wandel erklären. Diese Entwicklung betrifft nach Ansicht des Forschungszentrums beide große Kirchen ungefähr gleichmäßig, vorausgesagt wurden für 2060 noch 22,7 statt 44,8 Millionen Christen in Deutschland. Das Kirchensteueraufkommen soll zwar (das Weiterbestehen des entsprechenden Systems einmal vorausgesetzt) nominal konstant bleiben, aber da der Kaufkraftverlust aufgrund der Mitgliederentwicklung in Zukunft nicht mehr ausgeglichen werden kann, sind unter diesen Voraussetzungen erhebliche Einsparungen beim Personal und in der Struktur kirchlicher Angebote notwendig; die entsprechenden Spardiskussionen würden, das lehrt die Erfahrung, ebenso zeitraubend wie zermürbend sein. Träfe die Freiburger Prognose zur Zukunft des kirchlichen Christentums in Deutschland zu, wäre dies das Ende der Form von Volkskirche, wie wir sie, ungeachtet einzelner Einbrüche beispielsweise in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands, immer noch erleben und schätzen.

Gelegentlich hört man, dass „die Säkularisierung“, also eine gleichsam in die DNA der Neuzeit eingeschriebene Verdrängung der Religion aus allen Bereichen des Lebens, aber auch der Welterklärungen, für die nachlassende Kirchenbindung, die abnehmende Bereitschaft, Kinder taufen zu lassen und Wendepunkte des Lebens wie Hochzeit oder Begräbnis mit kirchlichem Segen zu begehen, also für die vom Freiburger Forschungsinstitut vorausgesagte Entwicklung recht eigentlich verantwortlich sei. Aber so einfach ist es nicht. Denn inzwischen wird immer deutlich, dass nicht die Bedeutung der Religion in Neuzeit mit wachsender Tendenz schwindet, sondern sich Stellung und Gestalt der Religion verändert. Das müsste man jetzt sehr differenziert entfalten, denn Stellung und Gestalt der Religion verändern sich nicht nur nach Erdteilen und Ländern ganz verschieden, sondern auch nach Regionen, ja manchmal nach Ortsteilen unterschiedlich. Ich wage eine zusammenfassende Beschreibung für den Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland: An die Stelle der einheitlichen konfessionellen Prägungen deutscher Territorien ist eine große Pluralisierung getreten, viele binden sich ohnehin nicht mehr gern an Institutionen und wünschen sich Religion mehr wie das Buffet einer Cafeteria – man wählt aus, was einem gerade gefällt und kann auch ruhig einmal Rotwein zum Fisch trinken. Neu ist allenfalls, wie vielen Menschen, denen Religion fehlt, für ihren Geschmack gar nichts fehlt, ja, die Menschen nicht einmal wissen, dass ihnen etwas fehlt (jedenfalls von unserer, vom christlichen Glauben bestimmten Sicht her gesehen). Aber dieses Lage erklärt sich auch ein Stück weit daher, dass sich über viele Jahrzehnte selbst die ausgebildeten Hauptamtlichen nicht getraut haben, Menschen auf ihren Glauben oder Nichtglauben anzusprechen und von ihrem eigenen Glauben (und Zweifeln) zu reden. Natürlich gibt es nur wenige, die von Geburt an Talent zu solchen Gesprächen haben, aber man kann das lernen und es gibt einschlägige Angebote. Ob wirklich die Sehnsucht nach einem letzten Sinn des Lebens, der die irdischen Zusammenhänge übersteigt, unrettbar nachlässt, ist sehr schwer zu beurteilen. Ich finde jedenfalls immer noch viele Menschen, die – wenn auch nicht unbedingt in traditioneller Form – über solche Fragen ins Gespräch kommen wollen oder Informationen suchen. Und Fremdheit gegenüber christlichen Antworten und den Formen, in denen diese christlichen Antworten gelebt werden, lässt sich nicht immer, aber immer wieder überwinden durch (wie man so schön sagt) niedrigschwellige Angebote und offene Türen.

Schon deswegen ist die Entwicklung, die das Forschungszentrum voraussagt, kein unabwendbares Schicksal und schon gar nicht Gottes Wille, in den sich alle willenlos fügen müssten. Aber was soll man tun? Was kann man tun? Man sollte, soviel ist klar, beherzt die Chancen ergreifen, die Gott uns eröffnet und seine Kirche sicher auch in Zukunft haben wird. Ich möchte aber in einem zweiten Teil dieses Vortrags nicht sofort über die Chancen des Christentums in Gegenwart und Zukunft reden, sondern zunächst einmal das tun, was ich zu Beginn angekündigt habe. Ich möchte zuerst auf die Geschichte des antiken Christentums schauen und auf die Chancen, die sich damals dem Christentum eröffneten, bevor ich aus diesem Rückblick mehr oder weniger prophetische Bemerkungen zur Gegenwart und damit auch zur Zukunft mache. Die späte kaiserzeitliche römische Antike ist übrigens unserer Gegenwart in manchen Punkten – ungeachtet aller Unterschiede – durchaus vergleichbar: In beiden Fällen haben wir es mit multiplen krisenhaften Erscheinungen zu tun – ich nenne nur vier in Gestalt von umfassenden Migrationsbewegungen, dramatischen Entwicklungen auf dem Finanzmarkt, größeren Pandemien sowie dem Zusammenbruch des bisherigen Solidaritätsgefühls in der Gesellschaft und mit dem Staat. Auch deswegen lohnt die Zusammenstellung der Chancen des Christentums damals und heute; ich beginne mit Bemerkungen zu den Chancen des Christentums in der Antike.

Wenn wir einmal für einige Augenblicke alles vergessen, was wir über die Geschichte des Christentums seit seinen Anfängen wissen und uns nur diese Anfänge am See Genezareth und in der Kleinstadt Jerusalem vorstellen, dann liegt auf die Frage nach den Chancen des Christentums im ersten Jahrhundert eigentlich eine negative Antwort sehr nahe. Eine solche Bewegung konnte eigentlich weder auf dem religiösen Markt der Antike noch sonst wo im römischen Reich den Hauch einer Chance haben. Das will ich zunächst kurz ausführen:

Das Christentum begann als eine religiöse Gruppe im Judentum am äußersten Ende des römischen Reiches in der tiefsten Provinz, also in einer unsicheren Region, in die sich kein römischer Beamter oder Militär gern versetzen ließ. Der Anführer wurde als Messiasprätendent von der römischen Besatzungsmacht auf eine besonders unehrenhafte und schandbare Weise hingerichtet, und die ersten römischen Autoren, die über ihn schrieben, konnten nicht einmal seinen Namen richtig schreiben. Aus dem griechischen Wort Χριστός machten sie den Sklavennamen Chrestus, weil sie natürlich nicht wussten, dass Χριστός nur das hebräische Messias übersetzt (das hätten sie freilich auch nicht verstanden) und sich höchstens an das Wort νεόχριστος, frischgestrichen, erinnert gefühlt hätten. Obwohl also der Protagonist der Bewegung einen Sklaventod gestorben war und die Bewegung selbst aus dem hintersten Winkel der römischen Welt stammte, stellte sie hohe Anforderungen an die Mitgliedschaft. Sie erwartete von ihren Anhängern, gegen alle erfahrbare Wirklichkeit zu glauben, dass jener schmachvoll gekreuzigte Messiasprätendent lebe, von Gott zum Herrn der Welt eingesetzt sei und herrlich wiederkommen werde. Außerdem – oder vielleicht besser: deswegen – wurde von den Anhängern missionarischer Einsatz bei der Ausbreitung der Botschaft erwartet. An mehreren Stellen im Neuen Testament, beispielsweise im Lukasevangelium, werden diese besonders hohen Anforderungen an Menschen formuliert, die angesichts des nahen Endes in alle Welt hinausziehen, um die Botschaft zu verkünden. Jesus spricht zu ihnen: „Ihr sollt nichts mit euch nehmen auf den Weg, weder Stab noch Tasche noch Brot noch Geld; es soll auch einer nicht zwei Röcke haben. Und wo ihr in ein Haus geht, da bleibet, bis ihr von dannen zieht. Und welche euch nicht aufnehmen, da gehet aus von derselben Stadt und schüttelt auch den Staub ab von euren Füßen zu einem Zeugnis über sie“ (Lukas 9,3-5).

Für uns ist es selbstverständlich, diesen gekreuzigten Messiasprätendenten als den Herrn und Heiland unseres Lebens zu bekennen. Wie das ein gebildeter nichtchristlicher Zeitgenosse der Antike vermutlich gesehen hat, hat der Schriftsteller Arno Schmidt vor einigen Jahren so formuliert:

„Was würden wir heute sagen, wenn ein junger Mann aus irgend einem unbedeutenden Zwergstaat käme; keiner der großen Kultursprachen mächtig; völlig unbekannt mit dem, was in Jahrtausenden Wissenschaft, Kunst, Technik, auch frühere Religionen geleistet haben – und ein solcher stellte sich vor uns hin mit den dicken Worten: ‚Ich bin der Weg; und die Wahrheit; und das Leben’? Wir müßten’s uns durch einen herbeigerufenen Dolmetsch erst noch mühsam aus dem barbarischen Dialekt übersetzen lassen – würden wir nicht halb belustigt, halb verständnislos ihm raten: ‚Junger Mensch: Lebe erst einmal und lerne: und komme dann in 30 Jahren wieder!“.

Gebildete antike Historiker bezeichneten das Christentum entsprechend auch als exitiabilis superstitio, als „unerhörten Aberglauben“ aus dem Orient: Nihil aliud inveni quam superstitionem pravam, immodicam „Ich fand nichts als einen wüsten, maßlosen Aberglauben“, meldete der Statthalter der Bithynia seinem Kaiser nach Rom über seine gerichtlichen Befragungen von Christen. Ein platonischer Philosoph des zweiten Jahrhunderts schreibt – dabei natürlich polemisch übertreibend – über die Christen, die er in der antiken Bildungsmetropole Alexandria offenbar nicht auf den Bänken der Hörsäle fand:

„Textilarbeiter, Schuster und Walker, ungebildete und ungesittete Leute, die vor den älteren und verständigen Hausherren kein Wort zu reden wagen, wenn sie aber Kinder und Weiber vor sich bekommen können, so reden sie die wunderlichsten Dinge und stellen ihnen vor, sie sollen sich nicht an den Vater und den Lehrer halten, sondern nur ihnen folgen“.

Christliche Lehrer, so behauptete der Philosoph, würden nur „Ungebildete verführen“ und ihre Hörerschar aus „Narren und Sklaven“ rekrutieren. Das sei so verwerflich wie ein Arzt, der weiß, dass er nicht heilen kann, aber Menschen davon abhält, einen wirklich gut ausgebildeten Arzt aufzusuchen. Der Philosoph warnt mit starken Worten vor dieser „Religion der Dummen“, einer „naiven Lehre“ für naive Leute, die von allen Geistern, ja von der Weltvernunft selbst verlassen sind.

Obwohl das römische Reich eine multireligiöse Grundstruktur besaß und viele Religionen tolerierte, hatte das junge Christentum doch eigentlich – im Unterschied beispielsweise zum Mithraskult, der unter Soldaten und Offizieren sehr beliebt war, kaum Chancen der Ausbreitung. Das lag daran, dass es die geistigen Grundlagen dieser religiösen Toleranz nicht teilte und sich nicht schiedlich-friedlich mit den anderen Religionen arrangierte. Das Christentum forderte von seinen Anhängern die ausschließliche Verehrung eines einzigen Gottes, des Vaters Jesu Christi, und erklärte alle anderen Götter in jüdischer Tradition für Dämonen und Nichtse. Die christlichen Theologen warnten davor, sich an dem Staatskult zu beteiligen, von dem nach überwiegender Ansicht auch die Staatswohlfahrt abhing. Das musste die römische Staatsmacht auf den Plan rufen, denn ein solches Verfahren gefährdete die öffentliche Ordnung und die auf der Religion basierende Staatswohlfahrt dazu. Es dürfte lediglich an der reichlich lockeren Strafverfolgungsdisziplin im römischen Reich gelegen haben, dass das Christentum nicht von Staats wegen ausgerottet wurde: Seit dem Anfang des zweiten Jahrhunderts wurde Menschen, die auch nach Ermahnung am christlichen Bekenntnis festhielten, die Hinrichtung angedroht. Nur deswegen, weil viele römische Provinzstatthalter kein Interesse hatten, sich während ihrer vergleichsweise kurzen Dienstzeit die Ruhe in der Provinz durch Christenprozesse zu ruinieren, blieb die Zahl der Opfer dieser Rechtslage vergleichsweise gering, auch in den großen Verfolgen des dritten und frühen vierten Jahrhunderts.

Dabei ist mir fraglich, ob antike Menschen das Christentum überhaupt als „richtige“ Religion anerkannt haben. Im Unterschied zu den prächtigen Tempeln, wie sie uns selbst in Überresten noch heute beeindrucken, und den großen religiösen Zeremonien bot das Christentum stark auf das biblische Wort konzentrierte gottesdienstliche Versammlungen in Wohnzimmern an, eine religiöse Grundurkunde, die sehr stark von den Verhältnissen einer sehr abgelegenen Provinz geprägt war und auch sprachlich nicht gerade zur Hochliteratur zählte. Es gab keine blutigen Opfer, zunächst auch noch keine großen Prozessionen über die Märkte und Straßen der Städte, keinen offiziellen Kult an Staatsfeiertagen mit den kaiserlichen Beamten und Militärs.

Wenn man sich diese Umstände klargemacht hat, kommt man um die Feststellung wohl kaum herum, dass das Christentum im ersten Jahrhundert jedenfalls für einigermaßen gebildete Zeitgenossen ein nahezu chancenloses religiöses Angebot war. Wieso hat das Christentum überhaupt die Antike überlebt?

Natürlich gibt es eine ganze Anzahl von Gründen, warum die auf den ersten Blick so chancenlose Religion doch den Sieg über alle anderen, scheinbar so chancenreichen Kulte der Antike davongetragen hat. Ich habe sie umfassender vor einiger Zeit in einem Buch zusammenzustellen versucht und möchte deswegen nur drei Gründe herausgreifen, die für uns als Chancen des Christentums heute Abend interessant sind.

Eine erste Erklärung findet sich bei dem römischen Kaiser Julian, der im späteren vierten Jahrhundert noch einmal (aber letztlich erfolglos) die Restauration des paganen Staatskultes versuchte. Der Apostatenkaiser führte den Erfolg der „gottlosen Galiläer“, wie er die Christen mit Anspielung auf die provinzielle Herkunft ihrer Religion nannte, in einem Brief an den Oberpriester von Galatien auf die erfolgreiche Sozialdiakonie der Christen zurück und das Fehlen analoger Einrichtungen wie Gesinnungen auf der paganen Seite. Die christliche „Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden, die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die … Reinheit des Lebenswandels“ hätten jene „Gottlosigkeit“, also den christlichen Glauben, am meisten gefördert. Der Kaiser empfand es als eine „Schmach“, wenn „die gottlosen Galiläer“ „neben den ihren auch noch die unsrigen ernähren, die unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite entbehren müssen“. Angesichts solcher Einsichten wundert es nicht, dass der Kaiser am Schluss seines Briefes den paganen Priestern den Aufbau von Herbergen für Fremde, Zufluchtsstätten für Bettler und Asylen für junge Frauen befiehlt und die Einrichtung einer kostenlosen Armenspeisung anregte. Zu diesem Zeitpunkt war es allerdings für solche hastigen Gegenmaßnahmen längst zu spät, weil die flächendeckende Christianisierung längst alle Schichten der Gesellschaft und eben das Kaiserhaus selbst erfasst hatte. Der Apostatenkaiser blieb „ein Wölkchen“, wie ein christlicher Bischof in einer Polemik gegen ihn formulierte. Nicht vergänglich, sondern zutreffend scheint mir allerdings Julians Beobachtung, dass die intensive Sozialdiakonie der Christen, ihre Vorsorge für Arme, Witwen und Waisen, für alte und kranke Menschen die an sich so trüben Chancen der neuen Religion im Reich massiv verbessert hat, ja maßgeblich zum Aufstieg des Christentums beigetragen hat. Ein sprachliches Zeichen für diesen Zusammenhang ist, dass das Wort „Almosen“ (ἐλεημοσύνη) bei Juden und Christen aufgebracht wurde und von da in den griechischen und lateinischen Sprachgebrauch eingewandert ist. Das Christentum baute in der Antike soziale Netzwerke, die nicht an die in der römischen Gesellschaft üblichen Vorbedingungen geknüpft waren und wohl gerade deswegen für Angehörige aller Schichten attraktiv waren. Auf diese Weise veränderte es letztlich das gesamte Gesicht der antiken Welt.

Ich nenne einen zweiten Punkt, von dem wir aus Berichten von Christen und Heiden wissen, dass er die an und für sich bescheidenen Chancen des Christentums in der Antike massiv vergrößerte und auf diese Weise mit dazu beitrug, dass das Christentum die Antike so erfolgreich überlebte. Menschen erfuhren das Christentum als eine machtvolle und kräftige Religion, weil Christen Krankheiten heilten. Dafür gibt es aus der Antike zahllose Zeugnisse. Uns wird beispielsweise berichtet, dass im fünften Jahrhundert ein Beduinenscheich namens Aspebetus mitsamt seinem aus Persien hinübergewanderten Beduinenstamm zum Christentum übertrat, weil es einem Mönch aus der Umgebung von Jerusalem gelungen war, seinen „halbvertrockneten“ Sohn – wie es die Vita des Mönchs drastisch ausdrückt – zu heilen, gesund zu machen, nachdem alle ärztliche Kunst und magische Technik an dem Knaben gescheitert waren. „Wo bleibt alle ärztliche Kunst?“, lässt die Vita den verzweifelten Vater vor dem Kloster des Mönchs ausrufen. „Wo bleiben die Vorstellungen unserer Magier und die Kraft unserer religiösen Vollzüge? Wo die Anrufungen? Und die Mythen der Astronomen und Astrologen? … Siehe: Nichts von diesen Dingen hat Kraft“. „Kraft“ aber hat das Zeichen des Kreuzes, mit dem der Mönch den halbtrockenen Knaben „versiegelt“, wie es in der Vita heißt. Eben diese Kraft bewegt aber die sarazenischen Beduinen, mehr von dieser wundertätigen Religion hören zu wollen und sich taufen zu lassen. Schon im Neuen Testament kann man sehen, dass es die besondere Kraft der Christen im Umgang mit Krankheiten und anderen Beschädigungen individuellen wie sozialen Lebens war, die Menschen beeindruckte und dazu ermunterte, selbst Christen zu werden.

Als dritten und letzten Punkt möchte ich die spezifische Attraktivität der christlichen Botschaft nennen, die die an sich bescheidenen Chancen des Christentums in der Antike ebenfalls massiv verbessert hat. Mit spezifischer Attraktivität meine ich, dass die christliche Botschaft auf der einen Seite so einfach angelegt war, dass sie noch der schlichteste Zeitgenosse verstehen und glauben konnte, vor allem aber in sein Leben ganz praktisch umsetzen konnte. Auf der anderen Seite war die christliche Botschaft aber so tief und anregend, dass sich schon im späten zweiten Jahrhundert prominente Intellektuelle mit ihr auseinandergesetzt haben und dann zu ihr übergelaufen sind. Die geistige Elite der Antike nahm staunend zur Kenntnis, dass einzelne ihrer Vertreter begannen, das Christentum als die eigentliche Krönung der Philosophie zu interpretieren, und mit solchen Thesen Hörsäle zu füllen vermochten. Diese vertiefte Form von Christentum wurde aber nie zur Einstiegsbedingung für einfache Christenmenschen gemacht, sondern blieb in gewisser Weise das Privatvergnügen einer besonderen Schicht, nämlich von Theologen. Wieder war es ein paganer Philosoph, der diese offenkundig überaus erfolgreiche Integration der Gegensätze im Christentum – Einfachheit und geistige Tiefe – mit klaren Worten analysierte:

„Die christliche Philosophie (also: die christliche Lehre) wird als einfach bezeichnet. Sie selbst legt auf die ethische Bildung die meiste Sorgfalt, aber hinsichtlich der exakten Mitteilungen über Gott macht sie nur Andeutungen. … Denn auch bei den ethischen Fragen vermeiden sie die etwas schwierigeren Probleme, wie etwa das, was ethische und was vernünftige Tugend sei (d.i. eine traditionelle philosophische Distinktion) …, deshalb widmen sie sich besonders der ethischen Ermahnung. Viele Menschen beachten diese Vorschriften und, wie du mit eigenen Augen sehen kannst, machen sie große Fortschritte hinsichtlich der Tugend, und ein Eindruck von Frömmigkeit setzt sich fest in ihrem Verhalten“.

Der pagane Philosoph hat gut beobachtet, dass die christliche Lehre gerade durch ihre Konzentration auf ethische Maßstäbe und Grundzüge einer Gotteslehre, durch den Verzicht auf komplizierte Spekulationen den christlichen Glauben praktisch werden lassen kann, es Menschen unterschiedlichster geistiger und körperlicher Voraussetzungen möglich wurde, ihn zu ihrer Lebensform zu machen, zu habitualisieren.

Wir haben gesehen, dass die intensive Sozialdiakonie, die Kompetenz zur Heilung von individuellen Gebrechen und die gleichzeitige Einfachheit wie Tiefe der christlichen Botschaft die an und für sich ziemlich chancenlose christliche Religion nicht nur die Antike überleben ließ, sondern ihren Sieg über alle anderen Kulte und Religionen mit bewirkte. Eine letzte Frage müssen wir freilich am Ende unseres ersten Abschnittes noch kurz anreißen: Reichen solche historischen und sozialwissenschaftlichen Erklärungen aus? War es nicht Gott selbst, der seinem Wort die Kraft gab, zu bewirken, was es verheißt? Natürlich bekennen wir so und natürlich lehren wir das. Aber es ist furchtbar schwierig und letztlich auch theologisch irreführend, bei der Betrachtung der Vergangenheit abzugrenzen, wieviel Prozent des Erfolges des antiken Christentums nun auf solche innerweltlichen Chancen, wieviel Prozent auf Gottes gnädiges Wirken zurückgehen. Denn ohne Gottes gnädiges Wirken wäre ja nichts von all dem geschehen. Das bringt uns zum zweiten Abschnitt des zweiten Teils dieses Vortrags, zu Bemerkungen über die Chancen des Christentums im einundzwanzigsten Jahrhundert:

Auch wenn wir nach den Chancen des Christentums in diesem angebrochenen einundzwanzigsten Jahrhundert fragen, liegt – wie beim antiken Christentum – zunächst einmal eine sehr pessimistische Antwort nahe. Der jüngst verstorbene Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann, ein frommer Katholik, übertitelte schon vor Jahren ein Taschenbüchlein mit den Worten „Überlebt das Christentum die Moderne?“. Die Krisensymptome, die die Chancen des Christentums mindestens hier in Mitteleuropa deutlich zu mindern scheinen, haben wir vorhin schon andeutungsweise aufgezählt, man könnte diese Aufzählung fortsetzen und vertiefen.

Wie in der Antike könnte man also annehmen, dass die Chancen des Christentums in der Moderne gewaltig gesunken sind – mindestens in Mitteleuropa, denn dass in Osteuropa, Südamerika und Afrika das Christentum so boomt wie die Religionen dort überhaupt boomen, muß nicht sehr lange erklärt werden. Auf den ersten Blick scheinen die Chancen des Christentums darauf, seine gesellschaftsgestaltende Kraft zu bewahren, vor allem in Mitteleuropa in den letzten Jahrzehnten drastisch gesunken und drohen Jahr für Jahr weiter zu sinken. Ich votiere allerdings dafür, dass wir – wie auch schon im Blick auf die Antike – doch gründlicher hinsehen und die Lage noch einmal sorgfältig prüfen. Dabei orientiere ich mich an den drei Punkten, die wir im voraufgegangenen Abschnitt dieses zweiten Teils als die großen Chancen des Christentums in der Antike in den Blick genommen hatten: Sozialdiakonie, Kompetenz zur Heilung von individuellen Schwäche und die gleichzeitige Einfachheit wie Tiefe der christlichen Botschaft.

Bleibt nicht erstens die Sozialdiakonie auch eine große Chance des Christentums im einundzwanzigsten Jahrhundert? Oder vielmehr: Steigert sich ihr Wert nicht von Jahr zu Jahr? Da ist ein öffentliches Gesundheitssystem traditioneller Art in den meisten europäischen Staaten kaum mehr finanzierbar, da brechen alle die staatlichen Einrichtungen, die die christlichen Wohlfahrtseinrichtungen substituiert haben, nach und nach zusammen. Braucht es da nicht wieder wie in der Antike einen besonderen Einsatz des Christen? Braucht es nicht wieder wie in der Antike von Christen betriebene und finanzierte Herbergen für Fremde, Zufluchtsstätten für Bettler und Asyle für junge Frauen? Brauchen wir nicht inzwischen schon wieder in vielen Großstädten die Einrichtung einer kostenlosen Armenspeisung, die in Deutschland gern „Laib und Seele“ genannten Ausgabestellen der Kirchengemeinden? Für eine solche Sicht der Dinge spricht schon der ungeheure Erfolg einschlägiger Einrichtungen, die in den letzten Jahren eröffnet worden sind. Ich denke beispielsweise auch an verschiedene Suppenküchen und Notunterkünfte in Großstädten wie beispielsweise in Berlin, oft auch in den großen, kaum mehr genutzten Kirchengebäuden.

Sollte nicht zweitens der weitgehend an Ärzteschaft, die medizinische Forschung und die großen Kliniken abgegebene christlichen Kompetenz zur Heilung von Krankheiten wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden? Liegt hierin nicht auch eine große Chance des Christentums im einundzwanzigsten Jahrhundert? Natürlich liegt es mir fern, in eine billige Krankenhaus- und Ärzteschelte einzustimmen oder gar für eine Wiedereinführung magischer Praktiken in Konkurrenz zur wissenschaftlichen Medizin zu votieren. Aber wenn man sich klarmacht, wie stark psychosomatische Zusammenhänge für die Entstehung von Krankheiten und ihr chronisch werden verantwortlich sind, dann sind für nicht medizinisch vorgebildete Christen genügend Felder geblieben, sich gemeinsam mit Ärzten um die Heilung von Krankheiten zu kümmern und dieses Feld menschlichen Lebens nicht einfach an die professionellen (und vielen halbprofessionellen) Heiler unserer Gesellschaft abzuschieben. Ich nehme – wie Sie vermutlich auch – wahr, dass in den christlichen Kirchen entsprechende Angebote zunehmen. Da ist sicherlich noch manche Spreu vom Weizen zu trennen und zu diskutieren, ob es wirklich Heilungsgottesdienste mit Spezialsegnungen sein müssen oder nicht eher die Kompetenz christlicher Laien für seelsorgerliche Gespräche gestärkt und noch stärker Krankenhausbesuchsdienste organisiert werden müssen. Aber das sind Einzelfragen. Wichtiger ist, dass wir die Wiederentdeckung der heilenden Kompetenz eines jeden Christenmenschen als eine große Chance des Christentums im einundzwanzigsten Jahrhundert begreifen und entsprechend handeln.

Als dritten Punkt nenne ich eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Spannungsverhältnis von Einfachheit und Tiefe in der christlichen Botschaft. Beides muss zusammengehalten werden. Vikare und Pfarrer müssen nach einem Universitätsstudium in der Lage sein, Christentum einfach und verständlich zu predigen und zu erklären. Die Horrorgeschichte eines Vikars, der auf die Frage: „Herr Pfarrer, wo ist meine gestorbene Großmutter jetzt?“ erklärt haben soll: „Ich bin Anhänger der Ganztodthese“, darf nicht zur still hingenommenen Realität in unseren Gemeinden werden. Zugleich muß aber auch vermieden werden, dass Christentum in Form von platten Weisheiten zur Alltagspolitik ohne politikwissenschaftlichen Sachverstand entfaltet wird oder jeweils modernen Maßstäben von Lebensführung und Weltanschauung angepasst wird – vor solchen Verflachungen warnt uns die Barmer Theologische Erklärung des Jahres 1934, deren neunzigjähriges Jubiläum wir in diesem Jahr feiern und über deren Gegenwartsbedeutung nachzudenken sich immer lohnt. Wir müssen darauf achten, so vom Christentum zu reden, dass die Einfachheit dieser Botschaft ebenso deutlich wird wie ihre Tiefe. Das scheint mir auch deswegen eine große Chance in unserer Gesellschaft, weil wir an allen politischen Parteien sehen können, wie wenig sich die Politik noch an Werten und Normen orientiert. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend von Trends und Meinungsumfragen vorgeben lässt, was gilt, hat Christentum eine große Chance. Christen sind die Anwälte der Werte und Normen, die unaufgebbar Grundlage jeder Politik gleich welcher parteipolitischen Couleur sein und bleiben müssen, Christen können aber auch zwischen wirklichen Werten und Normen einerseits und Moden wie Ideologien unterscheiden, weil sie die Differenz zwischen Vergänglichem und Unvergänglichem kennen. Wir müssen wieder entschlossener untereinander über christliche Werte und Normen sprechen, uns hier auf schlichte Standards verständigen und diese Standards dann auch entschlossen in der Gesellschaft vertreten, selbst dann, wenn dies auf den ersten Blick unbequem und wenig zeitgemäß erscheint. Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Menschen auf solche Klarstellungen warten und solche Klarstellungen eine der großen Chancen des Christentums im einundzwanzigsten Jahrhundert sind.

Ich komme nach diesem Vergleich von Chancen des Christentums in der Antike und im einundzwanzigsten Jahrhundert, der angekündigten rückwärtsgewandten Prophetie, zum Schluss. Wenn wir die Chancen des Christentums nutzen wollen und die Zukunft des Christentums, so weit es überhaupt an uns liegt, gestalten wollen, scheint es mir dringend notwendig, dass wir wieder mehr lernen, über Christentum und christlichen Glauben in unseren Gemeinden zu sprechen und solches Sprechen nicht den Fachleuten – also den Theologieprofessoren wie Professorinnen und Pfarrpersonen – überlassen. Die Habitualisierung christlichen Lebens und die Propagierung christlicher Werte gelingt nur, wenn wir auch davon reden. Die zunehmende Sprachlosigkeit in unseren Gemeinden, der zunehmende Einfluss einer geborgten religiösen Sprache, die nicht unsere eigene ist, der Einzug von sogenannten „Plastikwörtern“ auch hier ist ein Alarmzeichen, das wir nicht übersehen sollten. Sprechen über Christentum und christlichen Glauben muß man lernen, kann man aber auch lernen, am besten in Gemeinschaft, am besten in gut funktionierenden christlichen Ortsgemeinden – das ist die reformatorische Tradition des Priestertums aller Glaubenden, die immer Aufmerksamkeit und stete Pflege lohnt. Schließlich steht diese Arbeit für die Gesellschaft unter der gnädigen Verheißung Gottes, dass auch hier sein Wort nicht leer zu ihm zurückkommen wird. Uns ist zwar nicht gesagt, dass jedes unserer Unternehmungen gelingen wird und glücken soll, aber dass unsere Arbeit insgesamt eine gesegnete und vom Heiligen Geist getragene sein kann, daran ist ja kein Zweifel.

Es ist schwer, angesichts düsterer Zukunftsperspektiven die richtige Mitte zwischen den extremen Reaktionen zu finden. Bloße Aufgeregtheit hilft nicht, weil sie in unprofessionelles wie unproduktives Hyperventilieren führt. Aber die reine Gelassenheit, aus der heraus sich eigentlich immer besser handeln lässt und die sich auch theologisch einigermaßen gut begründen lässt (schließlich erhält Gott die Kirche und nicht sein irdisches Bodenpersonal) ist aus meiner Sicht nicht mehr ausreichend. Ein gewisses Maß an Beunruhigung ist sinnvoll, weil etwas unternommen werden muss, wenn nicht die vorhin erwähnten Prognosen des Freiburger Forschungszentrums für die Entwicklung der beiden großen Kirchen in Deutschland eintreten sollen. Zunächst einmal wäre notwendig, dass alle Hauptamtlich in der Kirche tätigen ihre Arbeit mit der Professionalität erledigen, die auch in anderen Berufen insbesondere der freien Wirtschaft verlangt wird: So gibt es in meiner Heimatstadt Berlin Kirchengemeinden – ich nenne bewusst keine Namen – da besucht der Pfarrer niemanden aus seiner Gemeinde zum Geburtstag, schreibt nicht einmal Karten, kümmert sich nicht um die Rinnsale von Wasser, die durch den löchrigen Beton in das Kirchenschiff einsickern, hat den Orgelwartungsvertrag aus vorgeblichen Einsparungsnotwendigkeiten gekündigt, so dass die großen Basspfeifen nun aus dem Prospekt zu kippen drohen und teure Reparaturen notwendig sind und es weiß auch niemand mehr die etwas komplizierte Kirchenheizung zu bedienen. Solche Probleme könnten durch ein zeitgemäßes Personalmanagement, das flächendeckend in den Kirchen ausgebaut wird, vergleichsweise zügig abgestellt werden. Sodann müsste die Ausbildung der künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer, die noch sehr stark einem deutschen Modell der Lehrerbildung des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet ist, sehr viel stärker an die inzwischen studierende Klientel angepasst werden, die jedenfalls nicht mehr weitgehend aus dem Bürgertum stammt wie früher und stärker für die heutige kirchliche Praxis sprechfähig gemacht werden müsste.

Aber glücklicherweise gibt es ja in unseren Kirchen immer noch eine große Schar hoch motivierter und engagierter Menschen, die bereit sind, in der Kirche und für die Kirche Verantwortung zu übernehmen. Mit denen zu arbeiten und wirken, macht sogar meistens richtig Vergnügen. Und nicht nur deswegen blicke ich optimistisch in die Zukunft. Denn ich glaube, dass kirchliche Kernangebote wie ein gut vorbereiteter und auf die jeweilige Gemeinde zugeschnittener Sonntagsgottesdienst, sensibel angelegte, anlassbezogene Gottesdienste zu den großen Lebensereignissen und eine aufmerksame seelsorgerliche Begleitung der Nah- und Fernstehenden nach wie vor gefragt sind, ebenso auch wie neue Formen und die musikalisch-kulturelle Arbeit in den Großstädten und die für das Land bestimmten spezifischen Angebote. Erst wenn die Kirche ihr Vertrauen in ihre Kernkompetenzen und in das Kernanliegen verloren hätte, wäre wirklich Panik angesagt. Ansonsten aber dürfen wir uns auch hier in Europa auf die Zukunft des Christentums freuen.

 

Christoph Markschies, Das antike Christentum. Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen, Beck’sche Reihe 1692, 3., durchgesehene und erweiterte Aufl. München 2016 = Il cristianesimo antico. Religiosità, stili di vita, istituzioni, Strumenti 83, Turin 2022 (trad. Gianfranco Forza).

Die Zukunft des Christentums – Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christoph Markschies