Markus 4. 35-41

Am Abend jenes Tages sprach Jesus zu seinen Jüngern: Lasst uns ans andre Ufer fahren.

Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm.

Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen.

Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?

Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille.

Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?

Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!

 

Liebe Gemeinde!

Jesus stillt den Sturm. Wir haben diese bekannte Geschichte als Evangelium dieses Sonntags gehört. Wir kennen sie wahrscheinlich schon lange.

Jesus stillt den Sturm. Aber wie interpretieren wir diese Geschichte?

Jeder Bibeltext spricht nicht nur auf einer Ebene, sondern auf mehreren Ebenen.

Das Wort Gottes spricht uns – wie jedes Wort, das wir hören – auf verschiedenen Ebenen an. Das wissen wir auch aus Erfahrung.

 

Diese verschiedenen Aussage-Richtungen Bibel hat man in der Kirchengeschichte in vier Typen zusammengefasst. Man spricht vom vierfachen Schriftsinn.

Die Bibel spricht im wörtlichen Sinn und teilt historische Fakten mit.

Die Bibel spricht im allegorischen Sinn, und alles hat damit auch symbolische, übertragene Bedeutung.

Die Bibel spricht in moralischem Sinn und sagt uns, wie man handeln soll.

Die Bibel spricht im Blick auf das Jenseits und die kommende Welt und lässt erahnen, was alles sein wird.

 

Man kann diese vier Aussage-Ebenen an jeder Bibelstelle durchspielen.

Meine Schüler am Gymnasium mussten das vor dem Abitur immer wieder tun. Da wurde ihnen ein Gleichnis Jesu vorgelegt, und sie mussten dann schreiben, was dieses Gleichnis über die wirkliche damalige Situation, über dessen geistliche Bedeutung, über dessen moralischen Impuls und dessen Jenseitsvorstellung sagt.

 

Wie gesagt, man kann jedes Bibelwort auf diese vier Ebenen hin befragen. Das ist zugegebenermaßen ein ziemlich technisches Vorgehen.

Aber wir können das heute auch an der wunderbar erzählten Geschichte von Jesus und dem Sturm durchspielen.

Was ist damals historisch passiert? Was bedeuten die Elemente der Geschichte für Gott, uns und unseren Glauben? Was lernen wir für unser Verhalten? Was erfahren wir über das Jenseits?

 

I.

Was ist damals wirklich passiert? Wie lässt sich das historisch einordnen?

Wie war das damals auf dem See Genezareth?

Hier tut sich dann gleich die schwere Frage auf, ob Jesus damals wirklich allein durch sein Drohen den Wind stillen konnte.

Wir können ja vieles nachvollziehen. Aber dass einer dem Wetter Befehle geben kann, das kennen wir nicht.

Sie können sich denken, dass viele Theologen von dieser Frage ganz schnell wegspringen hin zur symbolischen Bedeutung, weil das Faktum eines wundermächtigen Jesus als unwissenschaftlich und fast schon peinlich erscheint.

Manche suchen eine plausible Erklärung.

Manche erklären gleich die ganze Geschichte für erfunden. Es ginge nur um den symbolischen Gehalt.

Aber so schnell kann man die historische Frage nicht hinter sich lassen. Alles ist detailliert beschrieben. Man weiß, dass sich der eigentlich kleine See Genezareth durch Fallwinde von den Golanhöhen zu einem wilden Meer verwandeln kann.

Wir kennen inzwischen durch archäologische Funde auch die schmalen, langen Fischerboote jener Zeit, die durchaus schnell kentern können.

Wir erfahren davon, dass Jesus schläft und sogar von seinem Kissen hinten im Boot. Wir erfahren von der peinlichen Angst der gar nicht heldenhaften Jünger und von Jesu strengen Worten an sie.

Alles nur erfunden?

Klar ist aber auch, dass uns allein das historische Faktum für sich genommen nicht viel sagen könnte. Wenn das alles nur eine wirkliche, aber einmalige und vergangene Episode der Menschen damals war: Was hat das dann mit uns zu tun, die wir keine Fischer sind und nicht auf dem See Genezareth im Boot unterwegs sind?

 

II.

Springen wir zum moralischen Sinn der Geschichte. Dieser lässt sich ja aus allen Geschichte leicht ableiten, ob religiös oder nicht.

Nicht zufällig stellt man im Deutschen sprichwörtlich nach komischen oder unverstandenen Texten die Frage: „Was ist nun die Moral von der Geschicht?“.

Und so kann man auch von der Geschichte von Jesus, den Jüngern und dem Sturm lernen.

Man könnte lernen, dass man nicht leichtfertig bei unsicherem Wetter auf einen See hinausfährt. Die Epoche der Aufklärung liebte solche lebenspraktischen Auslegungen. Vom den Osterberichten der Bibel blieb dann übrig, dass es förderlich sei, Spaziergänge am frühen Morgen zu machen, weil man da allerhand entdecken könne.

 

Man könnte aber auch psychologisch lernen von der Angst oder gar Panik der Jünger und der Ruhe Jesu.  Man könnte die ganze Geschichte als einen einzigen Aufruf zur Tapferkeit lesen. Jesus bleibt auch im Sturm souverän und ruhig und mahnt die panischen Jünger mit den Worten: „Was seid ihr so furchtsam?“ „Trotzt dem Sturm! Lasst euch von Gegenwind nicht aus der Fassung bringen! Bewahrt die Nerven!“

Ich möchte gar nicht wissen, in wie vielen Feldpredigten Soldaten mit dieser Geschichte zu Mannbarkeit und Stärke aufgefordert wurden.

Ist das die Stoßrichtung dieses Evangelien-Berichtes?

Kann man die Tapferkeit als Ideal isolieren? Ist Jesus nur als strenger Mahner gegen die Furcht richtig getroffen? Kann man überhaupt eine „Moral“ aus der Geschichte isoliert herauslesen und von den Personen und Umständen lösen?

 

Diese Moral kann auch ganz anders, nämlich wohltuend und beruhigend anders sein. Die meisten Auslegungen unserer Zeit sehen so aus.

Und ich selber war schon kurz davor, die Predigt genauso zu halten:

Jesus ist mit im Boot; deshalb muss man keine Angst haben. Da mögen Stürme toben und Wellen sich auftürmen! Aber keine Sorge: Ihr habt ja Jesus bei euch im Boot. Auch wenn er still ist und zu schlafen scheint, er ist doch bei euch und greift ein, wenn es darauf ankommt.

Ich muss zugeben, dass mir diese Deutung sehr gefällt. Und sie ist auch nicht ganz falsch.

Aber sie geht nicht ganz auf.

Denn die Geschichte ist nicht dann vorbei, als Jesus den Sturm gestillt hatte und eine große Ruhe eintrat.

Die Unsicherheit der Jünger ist dann noch da:

Markus schreibt: Sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?

 

Die Bewahrung vor Gefahr ist nicht alles – zumindest nicht für unsere Geschichte! Sie endet nicht mit dem Ende des Sturms.

Für viele Menschen ist der Glaube an Gott identisch mit der Bewahrung vor Krankheit und Gefahr. Gott hat mich zu beschützen. Und wenn er das getan hat, dann hat er seine Pflicht getan.

 

Unsere Jesusgeschichte hört aber nicht mit dem Erlebnis der Rettung auf.

Da kommt noch die große Frage der Jünger: Wer ist der? Da bleibt noch Furcht übrig. Wie sieht es bei uns aus mit dieser bleibenden Furcht, mit dieser dankbaren, mit dieser staunenden Furch, mit dieser dauerhaften Gottesfurcht? Staunen wir noch über Gott und Jesus, oder wissen wir schon alles?

 

III.

Ich glaube, dass die Frage nach Jesus die wichtigste Ebene unserer Geschichte ist. Es geht weniger um Moral und Naturereignisse als um die geistliche Frage: Wer ist dieser Jesus? Für die Jünger damals, für uns heute, für alle die Jesus kennen oder auch nicht.

Diese Frage steht nicht zufällig am Ende der Geschichte, und sie sprengt die technische Einteilung des Berichtes in historische, symbolische und endzeitliche Bedeutung.

„Wer ist der?“ Diese Frage der Jünger mit schlotternden Knien steht am Ende.

„Wer ist der?“ Diese Frage steht auch am Ende der Geschichte vom Palmsonntag. Als Jesus auf dem Esel in Jerusalem einzieht und die Massen „Hosianna“ rufen, da fragen die Menschen auch; „Wer ist der?“

 

Ist das ein Spinner, den man vernachlässigen kann? Ist das ein interessanter Prediger, der uns inspirieren kann? Ist das ein tragischer Held, der in die Geschichtsbücher eingeht?

Das ist eigentlich die Grundfrage jedes Evangeliums. Das ist die Grundfrage des Neuen Testaments. Das ist die Grundfrage unseres Glaubens.

Nicht: Wie moralisch sind wir? Nicht: Wie standhaft sind wir?

Es geht um ihn!

Wer ist er?

Der Bericht von der Sturmstillung will diese Frage auch beantworten.

Jesus ist Gott. Er kann das, was nur der Schöpfer kann. Er kann die Naturmächte steuern.

Gott kann Sturmwind erregen und Wellen erheben. Er kann Ungewitter stillen und Wellen legen. Das haben wir heute mit dem alten Israel im Psalm 107 bekannt.

 

 

Es ist ein wichtiger Charakterzug des Glaubens Israels, dass Gott die Mächte des Meeres in der Hand hat und begrenzt.

Israel war nie ein Seefahrervolk und hatte immer Angst vor dem Meer.

Israel war ganz anders als die stolzen Hansestädte des Nordens wie Rostock, die ganz selbstbewusst das Meer und die Seewege in ihr Leben einbezogen.

Israel mit blickte immer mit Skepsis und Staunen auf die Völker, die mit Schiffen ins Mittelmeer stachen.

Das war Israel immer fremd. Denken wir an die alte Geschichte von Jona, der auf ein Schiff steigt, ins Meer geworfen wird und vom Walfisch gerettet wird!

Das Meer ist bedrohlich und steht für den Abgrund, in den man stürzen kann.

Gott ist der Einzige, der diese bedrohliche Macht bändigen kann.

Und jetzt stillt Jesus den Sturm auf dem Wasser.

Das, was man von Gott, dem Schöpfer sagen kann, das kann man auch von Jesus sagen. Er muss logischerweise sein Sohn sein. Das sagt die Sturmstillung Jesu des Markusevangeliums ohne viele Worte.

 

Das ist die entscheidende Aussage unserer Geschichte heute. Und welche historischen, psychologischen und moralischen Konsequenzen wir daraus ziehen, das ist ein zweiter Schritt. Und der bleibt uns überlassen.

Wir können den Kopf schütteln und weitergehen.

Wir können uns ein Beispiel nehmen und moralische Vorsätze fassen.

Wir können manche unserer Lebenssituationen als Sturm interpretieren.

Aber wir sollten niemals aufhören zu staunen und wie die Jünger mit nassen Füßen, klammen Händen und schlotternden Knien in Gottesfurcht zu Jesus zu schauen – oder wie es der Hebräerbrief (12,2) sagt: Aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Amen.

4. Sonntag v. d. Passionszeit – Pfr. Dr. Jonas