Lukas 1, 26-45

„Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade! Der Herr ist mit dir!“ Sie aber erschrak über die Rede…

Liebe Gemeinde, fast ist man als evangelischer Prediger heute geneigt, den Satz „Sie aber erschrak über die Rede.“ nicht nur auf Marias Engelsbegegnung zu beziehen, wie wir sie eben in der Lesung gehört haben. Nein, auch eine protestantische Gemeinde scheint diese Sätze manchmal mit einem leicht schreckhaften Zucken wahrzunehmen. Mit ihnen beginnt immerhin das vielleicht ‚katholischste‘ aller Gebete, eben das Ave Maria.

Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! – so beginnt also der Engel Gabriel seine Verkündigung der Geburt Jesu an Maria. Und wie so oft ist es doch erstaunlich, was alles tatsächlich in der Bibel steht.

Maria, die Begnadete; Maria, die Jungfrau; Maria, die Mutter Jesu; Maria, die Magd des Herrn. – Maria, die Mutter Gottes; Maria, die Gottesgebärerin! Maria, die Himmelskönigin?

Viele Beinamen hat Maria im Laufe der Zeit erhalten. Nur einige sind biblisch, nicht alle für evangelische Christen annehmbar, nur wenige uns heute noch wirklich verständlich. Was können wir von dieser Frau noch verstehen?

Sehen wir sie noch, über der die Beinamen und Prädikate ausgeschüttet sind – hoch aufgetürmt wie die Geschenkeberge über so manchem Kind in den kommenden Tagen?

Und warum steht sie heute überhaupt im Mittelpunkt des Gottesdienstes? Klar, für Weihnachten brauchen wir Maria, für die Geburt des Herrn die Mutter des Herrn. Aber auf ihn warten wir doch; seinetwegen, dem Licht der Welt, haben wir doch die vierte Kerze angezündet. Solus Christus – Christus allein, ist doch unser Wahlspruch. Was kann uns gerade sie gerade heute am 4. Advent sagen?

 

Wir haben heute im Evangelium zwei wichtige Szenen aus dem Leben Marias gehört: Die Verkündigung durch den Engel Gabriel, der ihr mitteilt, dass sie einen Sohn gebären wird.

Und dann die zweite Episode, die in altem Deutsch heißt: Mariä Heimsuchung, oder für uns heute verständlicher: Marias Besuch bei ihrer Verwandten Elisabeth.

 

Auch Elisabeth hat einen besonderen Gruß an Maria:“ Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!“ (Und schon wieder begegnet uns ein Fragment aus dem Ave Maria.) Gesegnet bist du – Maria, du Begnadete.

Sowohl der Gruß der Elisabeth als auch der Gruß des Engels zuvor machen deutlich: Maria ist etwas zugefallen, was sie nicht aus sich heraus erreicht und schafft. Gnade, Segen – der Urheber ist natürlich immer Gott allein. Was Maria auszeichnet, ist nicht ihre Demut, ihre Züchtigkeit, ihre Jungfräulichkeit, nicht ihre Verkörperung eines bestimmten Frauenbildes, nicht ihre soziale Stellung, nicht ihr Können. Es ist allein Gottes Zuwendung, allein seine Berufung, dass sie Mutter Jesu Christi werde, die sie auszeichnet. Maria, die von Gott Gesegnete und Begnadete.

Auf die göttliche Zuwendung reagiert Maria mit Glauben: Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Dem Engel hat sie zuvor gesagt: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Sie glaubt seiner Botschaft, vertraut auf Gottes Wort. Sie erkennt an, dass Gott etwas mit ihrem Leben vorhat, in ihrem Leben wirkt – obwohl dafür zunächst wenig zu sprechen scheint: Warum sollte so etwas schon einem armen Mädchen aus der Kleinstadt Nazareth im galiläischen Hinterland geschehen? Entsprechend hat sie selbst durchaus Rückfragen: „Wie soll das zugehen?“, hält sie dem Engel entgegen. Es geht nun nicht darum, ob ihr oder uns die Antwort des Engels zum Verstehen ausreicht. Entscheidend ist, dass Nachfragen und Nachdenken ihren Platz im Glauben haben, dass das aber das aufrichtige Vertrauen nicht mindern muss. Bei Maria jedenfalls ist das nicht der Fall. Maria, die Glaubende.

Und dann setzt die merkwürdige Erfahrung Energie frei. Maria macht sich auf, geht einfach los zu ihrer Verwandten Elisabeth, auf die sie der Engel verwiesen hatte. Die genaue Motivation bleibt unklar: Vielleicht sucht sie an der Stelle, auf die sie der göttliche Bote hingewiesen hat, noch einmal die Bestätigung – dass sie nicht verrückt ist, dass ihr Glaube keine Illusion ist, dass Gottes Wort wahrhaftig ist. So geht sie los – ohne die Genehmigung der Eltern oder des Verlobten einzuholen; ohne Begleitschutz; ohne große Vorkehrungen. Mutig, obwohl doch das Gebirge ein besonders gefährlicher Ort ist – wir denken an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, wo der arme Mann im Gebirge in die Hände der Räuber fällt. Gnade und Segen führen Maria zum Glauben, und der Glaube treibt sie an. Maria, die Mutige.

 

Diejenige, der Segen und Gnade von Gott geschenkt werden; diejenige, die glaubt und vertraut, auch wenn sie die Umstände vielleicht nicht ganz begreift; diejenige, die das alles so umtreibt, dass sie sich sogar mutig ins gefährliche Gebirge aufmacht – diese Maria ist es, die uns ganz nahekommt. Sie ist darin nicht die überlegene Himmelskönigin, eine Art Halbgöttin, unerreichbar, unantastbar. In den biblischen Geschichten erscheint sie wie eine von uns; freilich eine, der etwas Unvergleichliches widerfährt; eine, die richtig reagiert; eine, die sich nicht aufhalten lässt. Aber trotzdem: Wie Maria rechnet doch keiner von uns wirklich damit, von Gott berufen zu werden. Wie Maria haben auch wir immer eine Rückfrage an Gott parat. Wie Maria scheint aber doch etwas in uns zu sagen: „Ja, ich weiß nicht wie, aber ich glaube, ich vertraue darauf.“ – sonst wären wir heute vermutlich nicht hier. Wie Maria kann dieser Glaube dann Energie, Kraft, Trost, Zuversicht geben und uns zum mutigen Handeln antreiben. Maria, ein Vorbild des Glaubens.

 

Die Frage: Warum gerade Maria?, ist damit vielleicht beantwortet. Aber warum gerade heute, am 4. Advent?

 

Nach dem Gruß ihrer Verwandten Elisabeth stimmt Maria ein bekanntes Lobgebet an:

 

„Magnificat anima mea dominum – meine Seele erhebt den Herrn.“ Nachdem Maria die Grundbewegung des Glaubens durchlaufen hat, bricht aus ihr der Lobgesang heraus, ohne weitere Erläuterungen, der Elisabeth direkt ins Gesicht. Gott zu preisen, sich seinetwegen zu freuen – diese Gefühle brechen sich nun ungehindert Bahn. Ja, er hat wahrhaft große Dinge an ihr getan. Und diesem Überschwang lässt sich eben nur singend wirklich Ausdruck verleihen. Maria, die vor Freude Lobsingende.

Trotzdem ist noch lange nicht alles getan. Der Lobgesang steht nicht am Ende des Lukasevangeliums, sondern am Anfang. Der Gottessohn ist noch nicht einmal geboren. Insofern ist das Magnificat ein zutiefst adventliches Lied.

Entsprechend bedeutet, den Lobgesang Gottes zu singen, auch nicht, eine rosarote Brille aufzusetzen, sich das Leben schönzureden, die Welt schönzupredigen – als wäre alles gut. Das Magnificat zeigt ja nur zu deutlich, dass das Leben allerlei Unrecht und Dunkles bereithält: hoffärtige, überhebliche Menschen; die Unterdrückung der Niedrigen durch die Gewaltigen; die Schere zwischen Arm und Reich. Maria behauptet auch nicht: „Mich geht das nichts mehr an, mir macht das nichts.“ Vielmehr bleibt eine Spannung, ein adventliches Gefühl. Durch die Glaubensbewegung wird erst einmal der Blick verändert, durch den Lobgesang wird das Leben in ein neues Licht gerückt. Nicht umsonst zünden auch wir in diesen Tagen viele Lichter an, reden von Christus, dem Licht der Welt, dem Licht, das in der Dunkelheit scheint. Und wie eine Kerze in einem dunklen Zimmer nicht schon das Zimmer verändert, aber mir ermöglicht, in ihrem Licht das Chaos zu sehen und es aufzuräumen – so macht auch der Lobgesang die Welt noch nicht perfekt, aber er ermöglicht uns, dem Unrecht der Welt zu begegnen. Maria erweist sich dabei als adventliche Prophetin.

Mit kuscheliger Kerzenromantik und gemütlichem Stollen-Essen hat das alles wenig zu tun.  Beides ist schön! Aber das Magnificat und der Advent insgesamt sind doch weit mehr als das. Man könnte beim Magnificat geradezu von einem Revolutionslied sprechen, einem Lied, das Weltstürzendes verkündet, einem Lied, das Hoffnung auf Veränderung, auf eine bessere Welt weckt.

Menschliche Utopien jedoch weist Maria zurück. Sie hegt keine menschlichen Allmachtsphantasien, zettelt keine Revolution an, bereitet keinen Umsturz vor. Von ihr selbst gehen nur der Lobgesang und die Freude aus. Alles andere sucht sie nicht bei sich selbst. Sie will nicht selbst Gewalt üben, die Hoffärtigen zerstreuen, die Gewaltigen vom Thron stoßen. Sie sieht die Macht, das Revolutionäre, das Weltstürzende allein in Gottes Hand. Das soll nicht heißen: „Falls Gott mal wieder vorbeischaut, kann er ja auch mal aufräumen – wir jedenfalls tun nichts, um Unrecht zu bekämpfen oder die Welt besser zu machen.“ Unser ganzes Leben ist ja ein Tun; wir Menschen handeln unablässig. Es geht darum, sich in diesem unablässigen Tun richtig auszurichten, nicht zu denken: Ich kann es allein oder Wir können es allein. Nein, sich ganz auf Gott auszurichten; den Blick auf ihn zu lenken; sich durch diesen Perspektivwechsel, den Gott im Glauben selbst ermöglicht, verändern zu lassen – dann kann wirklich Revolutionäres, wirklich Weltstürzendes geschehen. Ein ganz lutherischer Gedanke: Maria, die allein Gott die Ehre gibt.

Und so denke ich, dass wir eigentlich genug zusammen haben sollten für eine evangelische Marienfrömmigkeit, mit der wir den biblischen Texten gerechter werden als bisher und auch ökumenisch durchaus ins Gespräch kommen können. Wir sollten alles zusammen haben für ein adventliches Marienbild: die Begnadete und Gesegnete, die Glaubende, die Mutige; die vor Freude Lobsingende, die adventliche Prophetin, die allein Gott die Ehre gibt. Maria – ein Vorbild eines christlichen Glaubens, der zutiefst adventlich ist: der um die großen Dinge weiß, die Gott getan hat und tut; und der um die revolutionäre Hoffnung weiß auf das, was noch kommen wird.

 

Und so geht es nicht darum, liebe Gemeinde, Maria auf einen Sockel zu heben und ihr etwas zuzurufen oder zuzusingen. Sie ist ohnehin schon hoch erhoben. Lassen Sie uns vielmehr mit Maria als Vorbild zusammen auf Gott schauen:

Mit Maria der Gesegneten und Begnadeten die Augen offenhalten für Gottes Segen und Gnade in unserem Leben.

Mit Maria der Glaubenden uns einlassen auf das Wagnis, heute noch Gott zu bekennen und ihm zu vertrauen.

Mit Maria der Mutigen in die Welt hinausgehen und tätig werden.

Mit Maria der Lobsingenden voll Freude in den Lobpreis Gottes einstimmen.

Mit Maria der adventlichen Prophetin Unrecht benennen und auf Veränderung hoffen.

Mit Maria allein unserem Gott die Ehre geben.

Amen.

4. Advent – Pfr. Dr. Jonas