Liebe Gemeinde,
aus einem gespaltenen Land komme ich in diesem Jahr zu Ihnen. Über den Weg in die deutsche Zukunft scheint es keine gemeinsame Vorstellung mehr zu geben. Auf der einen Seite gibt es die Fremdenangst und den Wunsch, Deutschland möglichst abzuschotten und viele Zuwanderer abzuschieben. Die Migrationspolitik wird für alle Übel verantwortlich gemacht. Auf der anderen Seite gibt es eine hyper-wache, auf Neudeutsch: eine „woke“ Strömung, die allenthalben Kolonialismus und Rassismus wahrnimmt, mehrheitlich für Palästina und gegen Israel demons-triert und der die massiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte längst nicht weit genug gehen. Wie sehr sich unser Alltagsleben verändert hat, konnte man in der letzten Woche an der Dokumentation zum 60. Geburtstag von Hape Kerkeling sehen. Die achtziger Jahre – das ist so lange her. Ein anderes Jahrhundert!
Doch wie lässt sich der heutige Graben zwischen „wokeness“ einerseits und Migrationsskepsis andererseits überwinden? Gibt es Gemeinsames bei dieser oft geradezu körperlich spürbaren Anspannung? Gibt es Einheit trotz der Gräben?
Liebe Gemeinde, der Apostel Paulus schreibt etwa um das Jahr 55 an eine gespaltene Gemeinde in Rom. Der Graben verläuft – soweit kann man das erschließen – zwischen den Judenchristen und den Heidenchristen. Die einen leben neu aus ihren Verheißungen, aus der Tora und den Propheten und begeistern sich für Christus, die lebendige Versöhnung Gottes mit den Menschen. Gott hat Jesus als Sühne hingestellt, so heißt es in Römer 3,25 ganz jüdisch. Die Heidenchristen dagegen sehen Jesus als einen Erlöser aller Menschen, der mit dem Judentum nicht mehr viel zu tun hat. Für sie ist Jesus das Ende des Gesetzes, das Ende der jüdischen Tora und Paulus zitiert das so in Röm 10,4. Wie lässt sich der Graben überwinden? Gibt es einen gemeinsamen Glauben bei aller Verschiedenheit?
Paulus will nach Rom reisen und von da aus nach Spanien. Die Gemeinde in Rom kennt er nicht. Und darum schreibt er den Römerbrief. Er gibt alles an Theologie, was er hat. Und er schreibt das beste Stück Theologie, das es in der gesamten Bibel gibt. Oftmals ist das ein hartes Brot. Aber dieses nährt die Kirche seit 1970 Jahren. Der Römerbrief ist unerschöpflich. Mit Herzklopfen und mit kühlem Kopf muss man sich ihm immer wieder nähern, um etwas zu verstehen und um sich selbst im Glauben an Gott besser zu verstehen.
Hören wir den für heute vorgeschlagenen Predigttext aus dem 15. Kapitel. Paulus kommt so langsam zum Schluss mit seinem Brief und jetzt geht es an das Entscheidende: Verhaltenshinweise, Mahnungen, der Ruf zur Einheit in einer lebendigen, aber von Spannungen zerrissenen Gemeinde.
4 Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. 5 Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, 6 damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. 7 Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. 8 Denn ich sage: Chris-tus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; 9 die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: »Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.« 10 Und wiederum heißt es: »Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!« 11 Und wiederum: »Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen
ihn alle Völker!« 12 Und wiederum spricht Jesaja: »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.« 13 Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Eine christliche Tugend macht Paulus in diesem Briefabschnitt besonders stark: die Hoffnung, die nach 1 Kor 13 dem Glauben und der Liebe an die Seite zu stellen ist. Schön beschreibt den Zusammenhang von Glaube und Hoffnung auch der Hebräerbrief in Kapitel 11,1: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“
(I.) Ein erster kurzer Satz, mit dem ich den Predigttext zusammenfasse, lautet darum: Glauben ist Hoffen. Hoffnung trägt über Abgründe; aber begründet muss sie sein. Ich habe diese Predigt begonnen mit der Bemerkung, dass ich in diesem Jahr aus einem gespaltenen Land komme. Das Übelste daran ist, dass es gar keine gemeinsame Hoffnung mehr zu geben scheint. Im Ge-genteil, man ist noch am ehesten einig bei der Einschätzung, dass die Lage hoffnungslos ist. „Lasciate ogni speranza voi ch’entrate“ – lasst fahren alle Hoffnung, die Ihr eintretet“ – so lauten die Worte beim Eingang in die Hölle in Dantes „Divina Commedia“. Leben wir inzwi-schen im Vorhof der Hölle?
Paulus macht dagegen die Hoffnung stark. Hoffnung ist ein wesentliches Kennzeichen allen Glaubens. Glauben heißt hoffen, denn auf das, was man schon hat, muss man nicht hoffen – es sei denn, man hoffe, dass etwas so bleiben möge, wie es ist. Da man dabei aber für die Zukunft hofft, die man auch nicht in der Hand hat, bleibt es dabei: Wir hoffen auf das, was wir nicht haben; und wir können nur dann hoffen, wenn wir glauben, dass es etwas zu hoffen gibt.
Paulus nennt hier den „Trost der Schrift“ als Hoffnungsgrund, und er bringt eine Menge alttes-tamentlicher Zitate. Diese beziehen sich auf beide Gemeindegruppen in Rom, auf die Juden, deren Diener Christus geworden ist und auf die Heiden, die sich mit dem jüdischen Volk freuen können. Glauben ist eben nicht Besitzen und triumphieren, sondern Glauben ist Hoffen. Schon im 8. Kapitel hatte Paulus dazu geschrieben: „Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung“ (8,24). Die Hoffnung hält sich an dem fest, was noch nicht da, was versprochen ist und was noch werden kann.
(II.) Mein zweiter zusammenfassender Satz: Hoffnung braucht Einheit. Hoffen kann man nur mit anderen zusammen. Man kann nicht gegen jemand hoffen. Das würde man Schadenfreude nennen. Auch die ist manchmal erlaubt, um die eigene Seele zu reinigen, wenn einem übel mitgespielt wurde. Aber weiterführend, hilfreich, aufbauend auch für andere ist Schadenfreude nicht. Hoffen braucht Einheit und das Denken an den anderen.
Etwa in der Mitte des Textes steht der schöne Vers 7, der viel bei Trauungen Verwendung findet: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Ehepaare finden nur gemeinsam Hoffnung, indem sie den anderen annehmen, so wie er ist – und das heißt ja allemal: der nicht ganz so ist wie eigentlich erwünscht. Annehmen muss man nicht das Erwünschte – das bleibt ein Ideal. Annehmen muss man das Reale, das nicht ganz so Geglückte, den anderen, wie er halt so ist.
Und das gilt ebenso für andere Gruppen – für die beiden Strömungen der Gemeinde in Rom zur Zeit des Paulus genauso wie für die „Woken“ und die Verunsicherten heute. Man soll sich keinnegatives Bild vom anderen machen. Das verselbständigt sich und kann schließlich zum Hass führen. Und Hass hat die fatale Eigenschaft sich selbst zu bestätigen und sich selbst zu verstär-ken.
In der letzten Woche las ich zwei Bemerkungen über Feindschaft und Hass, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Die erste stammt von dem israelischen Schriftsteller David Grossman, der heute vor einer Woche den Hamburger Marion-Dönhoff-Preis bekommen hat. Grossman, der selbst einen Sohn im Krieg verloren hat, sagt: „Feindschaft ist ermüdend.“ Feindschaft zermürbt von innen her. Sie verzerrt nicht nur den anderen, sondern einen selbst und entfremdet einen von allem, was gut ist. Die zweite Bemerkung stammt von dem Heidelberger Psychiater Thomas Fuchs. Er sagt: „Hass ist das vitalste Gefühl.“ Hass schüttet Zufriedenheitshormone aus. Die Welt ist schlecht, aber ich stehe auf der richtigen Seite und werde mit Kraft zuschlagen, damit der andere endlich nachgibt.
Warum widersprechen sich beide Aussagen nicht? Nun, ich denke, Hass und Feindschaft können wie eine Droge wirken – aber sie haben auch dieselben Nebenwirkungen. Sie vitalisieren einen Moment, schwächen aber auf Dauer. Hass ist nicht nur unmoralisch, sondern auch unge-sund. Er ermüdet und zersetzt das Herz. Darum heißt es bei Paulus: Nehmt einander an. Hoffnung braucht Einheit.
(III.) Dazu gehört noch mein dritter zusammenfassender Satz: Einheit braucht Verschiedenheit. Gesinnungsterror ist keine Einheit, sondern der Versuch einer Minderheit, alles zu bestimmen. Das ist weder in einer christlichen Gemeinde sinnvoll noch in der Politik. Gerade unsere katho-lische Schwesterkirche ringt mit diesem Problem. Die Reformer und die Bewahrer dort hoffen vielfach nicht miteinander, sondern gegeneinander. Der aktuelle Kinofilm „Konklave“ mit Ralph Fiennes in der Rolle des Kardinalsdekans hat das eindrücklich in Szene gesetzt. Uniformität zerstört alles Leben – auch das Glaubensleben. Darum: Nehmt einander an. Wenn Ihr das Verschiedene nicht liebt, dann achtet es und schätzt es wert aus Einsicht.
(IV.) Und schließlich der vierte Satz, mit dem ich Römer 11 zusammenfasse: Glaube, Hoffnung und Einheit brauchen das Lob. Nehmt einander an – „zu Gottes Lob“, schreibt Paulus.
Die Priorität des Lobens betrifft unser Zusammenleben und unser Verhältnis zu Gott. Unterei-nander ist Lob die kostbarste Währung. Ohne Loben können Kinder nicht groß werden und Erwachsene ersehnen nichts so sehr wie das Lob. Auch das Feilschen um mehr Gehalt oder Honorar ist vor allem ein Schreien nach Lob und Anerkennung.
Wer aber selbst andere lobt, wird immer ein wenig freier von sich selbst. Loben erfreut – Loben befreit. Das Lob Gottes aber relativiert die irdischen Verbindlichkeiten. Wer lobt, gewinnt an Souveränität und schwächt den Panzer der Selbstverliebtheit, der uns umgibt. Politisch gewendet: Das Lob Gottes ist zugleich ein subversiver Protest gegen die Mächtigen, die von ihren Untergebenen Lobhudeleien erwarten oder verlangen. –
Für die Gemeinde in Rom hat Paulus einen zusammenfassenden Wunsch. In Vers 5–6 heißt es: „Gott […] gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander […], damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt“. Das ist ein guter Grundsatz, nicht nur für die antike Gemeinde in Rom. „Gelobet sei mein Gott, voll Rat, voll Tat, voll Gnad“ (EG 1,4). – Amen.