Micha 6, 1-8

Hört doch, was der Herr sagt:

»Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«

Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!

»Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!

Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam.

Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der Herr dir alles Gute getan hat.«

»Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

 

Liebe Gemeinde,

unserer westlichen Christenheit, also der römischen Kirche und den Kirchen der Reformation, wird immer wieder vorgeworfen, sie denke zu juristisch. Die westliche Theologie und Frömmigkeit sei zu geprägt von einem Rechts-System, von Lohn und Gnade, von einem ständigen Horizont des Gerichts und von juristischem Vokabular.

Während die orthodoxe Lehre eher mystisch und dynamisch von einer Annäherung an Gott spricht und die Sünde als ein Abdriften von Gott sieht, fixiert die westliche Kirche Sünde auf einzelne Gesetzesverstöße und führt über die Sündenstrafen Buch und Register.

Und in der Tat ist das Kirchenrecht innerhalb der römischen Kirche eine wichtige Disziplin. Hier zeigt sich noch der hohe Rang des vorchristlichen altrömischen Rechts.

Der westliche Kirchenvater Augustinus gibt dann den Denkrahmen für Sünde und Gnade vor und damit eine ganze Reihe von juristischen Begriffen.

 

Der entsprechende Vorwurf trifft die lutherische Rechtfertigungslehre, die sich ganz in diesen westlichen Begrifflichkeiten bewegt.

Rechtfertigung, Iustificatio, Gerechtsprechung: Das funktioniert nur, wenn ich einen rechtlichen Zusammenhang denke: Gott als Richter, ein Forum, vor dem ich angeklagt bin und mich rechtfertigen muss, ein Urteil, dass über mich gefällt wird.

 

„Dieser ganze juristische Kontext passt heute überhaupt nicht mehr in die Glaubensvorstellungen der Menschen.“, sagte mein Ausbildungspfarrer schon vor vielen Jahren, und riet mir als seinem Vikar auf die gesamte Rechtfertigungsbotschaft bei Paulus oder Luther auf der Kanzel zu verzichten.

„Gericht ist eine unangenehme, bittere, kalte Vorstellung. Man sollte sie aus der religiösen Vorstellungswelt und aus der persönlichen Frömmigkeit möglichst streichen.

Gott als Richter, vor dem ich mich verantworten muss.

Christus als Weltenrichter am Ende der Zeiten. Das passt nicht mehr. Lass solche Gottesvorstellungen doch weg!“

 

Aber wie soll man dann als evangelischer Theologe über die Bibeltexte des Reformationsfestes sprechen, das uns ja kommenden Sonntag wieder droht. Können wir jeden forensischen Kontext, jede Vorstellung von Gott als Richter und von Erlösung als Freispruch einfach weglassen?

 

Ich muss heute nicht auf Luther zurückgreifen, der vielleicht tief in spätmittelalterlichen Vorstellungen gefangen war.

Ich muss heute nicht auf Augustinus zurückgehen, dessen Erlösungsvorstellung stark von seiner eigenen Biographie geprägt und vielleicht deformiert ist.

 

Ich kann heute auf den alttestamentlichen Propheten Micha verweisen, der uns den Horizont eines Gerichts vor Augen führt, der es in sich hat.

 

»Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«

Gott ruft hier zum Gericht – mitten im Leben!

Nicht erst nach dem Tod –  so etwas erwarteten die alten Griechen auch – nein, mitten im Leben!

 

Dass Gott Richter ist, ist ein bemerkenswerter Grundzug, der sich durchs ganzen Alte Testament zieht:

„Gott steht auf in der Gottesversammlung,

inmitten der Götter hält er Gericht.“, proklamiert Psalm 82.

„Richte mich Gott, aber verwirf mich nicht.“, beten die Bußpsalmen.

 

 

In Ruhe betrachtet ist diese Gerichtsvorstellung ist gar nicht schlecht!

Machen wir uns das einmal bewusst!

Hier wird man auch in der schwächsten Position als Angeklagter ernstgenommen und immerhin angehört.

Ist uns eigentlich bewusst, wie reif und wie wertschätzend die Vorstellung eines göttlichen Gerichts ist?

 

Wollen wir lieber ein blindes Fatum, das uns ohne jegliche Erklärung wie ein Fluch überkommt?

Wollen wir einen nordischen Donner-Gott, der einfach zuschlägt, ohne viele Worte zu machen?

Wollen wir Göttervorstellungen griechischer Art, in der Lust und Laune leitend für den Umgang mit den Menschen ist und weniger belastbare Gesetze?

 

Dass Gott mit uns in Rechtstreit geht, ist im religionsgeschichtlichen Vergleich und in ihrer Wertschätzung des Menschen gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Dieser Gott ist kein blindes Schicksal, dieser Gott ist kein ewiges Schweigen, dieser Gott ist nicht desinteressiert.

Dieser Gott ist leidenschaftlich an seinen Geschöpfen interessiert. Und er liefert sich dieser Leidenschaft nicht ungeschützt aus, sondern bindet sich selbst an die nachvollziehbare Form des Rechtsstreits.

 

Er will gehört werden, und er hört an.

„Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!“

Er will gehört werden, und er hört an. Und natürlich ist dieser Prozess des Schöpfergottes so groß und so umfassend, dass die Berge und die Natur zuhören, gleichsam dieses Zeugen Verfahrens sind!

 

 

Gottes Gericht zieht uns nicht über den Tisch.

Der Prozess, den Micha entfaltet, ist nicht das Endgericht. Es endet nicht einem vernichtenden Urteil.

Der Prozess, den Micha vor unseren Augen aufzeichnet, führt zum Nachdenken, zur Selbstprüfung.

Dieses Gericht regt uns zum Nachdenken an.

Am Ende steht nicht die Verzweiflung oder die blinde Aggression, sondern die tiefe Einsicht: „Ich weiß ja eigentlich, um was es geht.“

Die Rückkehr zu der Erkenntnis, von der wir ja kommen, das Bewusstwerden der Basis, die ja nicht neu ist, aber wieder ganz neu vor Augen tritt.

Ich kann diesem Gott rechnerisch gar nicht entsprechen. Ich kann nicht 1000 Opfer darbringen. Darum geht es nicht.

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

 

Kein Richter wird jemals mehr Genugtuung empfinden, als in dem Moment, in dem der Angeklagte ehrlich Einsicht zeigt und überzeugend Besserung gelobt. Man spricht hier von der pädagogischen Funktion von Gerichtsurteilen.

Micha will diese pädagogische Wirkung, wenn er uns Gottes Rechtsstreit mit uns vorführt.

Wenn wir am Ende ehrlich bei uns selbst ankommen, wenn wir am Ende bei Gott ankommen und bei dem, was er für uns schon alles Gutes getan hat, dann hat dieser Prozess sein Ziel erreicht.

 

Kein Tribunal, kein Pranger, sondern ein Klärungs-Prozess, der vielleicht hart, aber in jedem Fall heilsam ist.

 

Rechtsstreit, Gericht, Rechtfertigung.

Sühne, Sünde, Beichte:

Das sind alles keine finsteren Themen, die uns kleinmachen und runterziehen sollen, sondern Prozesse, in denen wir wieder dort ankommen, wo wir sagen können:

„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“

„Mensch, ja, ich weiß ja eigentlich, was gut ist, und was der Herr von mir fordert.“

 

Liebe Gemeinde,

ich bin mit unseren Überlegungen zum Gericht heute von Luther und Augustinus zum Propheten Micha zurückgesprungen.

Da steht zeitlich und heilgeschichtlich ja noch eine entscheidende Person dazwischen.

Wie steht Jesus zu alledem?

Drei abschließende Gedanken dazu:

 

1.

Wenn Jesus in seiner Verkündigung vom Gericht spricht, dann eben in der Weise, die Micha vorzeichnet hat. Ich habe von der pädagogischen Funktion der Gerichtsvorstellung gesprochen. Auch Jesus baut in seinen großen Schilderungen des Endgerichts keine depressive Zukunftsvision auf und keine apokalyptische Drohkulisse um ihrer selbst willen, sondern er will uns aufrütteln, wachsam machen und zu bewusstem Leben anleiten.

 

2.

Die Anklage Gottes an sein Volk, die der Prophet Micha formuliert hat, wurde von der Kirche dem gekreuzigten Jesus fast wörtlich in den Mund gelegt:  In den sogenannten Improperien des Karfreitags ist es der Gekreuzigte selbst, der sein Volk anklagt: „Popule meus! – Mein Volk, was habe ich dir getan, womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir! Aus der Knechtschaft Ägyptens habe ich dich herausgeführt.
Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.

Diese christologische Anwendung und Zuspitzung der Worte Michas ist genauso so treffend wie berührend.

Nur hat diese Karfreitags-Anklage, die traditionell zur Kreuzverehrung gesungen wird, leider im Laufe der Jahrhunderte eine antisemitische Wirkung entfaltet, weil man im angeklagten Volk „(Popule meus“) allzu gern die Juden sah und weniger die im Gottesdienst versammelte Gemeinde, an die sich diese Anklage eigentlich richtet!

Der „Originaltext“ bei Micha kann uns heute helfen, zu verstehen, dass mit Gottes Anklage und Einladung zum Rechtsstreit immer wir – die Angesprochenen gemeint sind – und niemals nur die anderen.

 

3.

Jesus ist aber niemals nur der Verkünder einer Gerichtsbotschaft oder der Ankläger innerhalb eines göttlichen Prozesses mit der Welt.

Jesus spricht nicht nur (wie die Propheten) göttliche Wahrheit aus, sondern in ihm vollzieht sie sich!

Jesus spricht nicht nur vom Gericht, sondern in ihm passiert es.

 

Micha sprach vollmundig davon, dass Gottes Rechtsstreit die Berge und Hügel einbezieht und die Grundfesten der Erde erschüttern lässt.

„Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!“

 

Springen wir nochmals zum Karfreitag:

Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Jesus schrie abermals laut und verschied. Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf.

Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

 

Der Evangelist Matthäus hat verstanden: Gottes Rechtsstreit mit seinen Geschöpfen ist keine unangemessenes Sprachbild, keine Übertreibung, keine blinde Drohkulisse,

sondern ein Prozess, der den Menschen als den erstnimmt, der er ist, ein Prozess, der in der Tat Himmel und Erde in Bewegung setzt,

ein Prozess, in dem von Gnade und Vergebung nicht nur gesprochen wird, sondern in der Hingabe Jesu Realität wird, lebensverändernde und weltverändernde Realität.

Der Mensch wird durch niemanden so ernstgenommen wie durch den Gott, der mit ihm in Rechtsstreit geht.

Der Mensch wurde niemals so ernstgenommen wie in dem Augenblick, als Gott sich am Kreuz selbst in diesen Rechtstreit hineingab und das endgültige Urteil gefallen ist.

Ernstgenommen und angenommen: Besser kann der Mensch nicht leben. Amen.

22. Sonntag nach Trinitatis – Pfr. Dr. Jonas