Liebe Gemeinde,

 

der Predigttext für den heutigen 16. Sonntag nach Trinitatis ist der Psalm 16, ein Gebet, dem in der Literatur besondere Schönheit attestiert wird. Ich lese Ihnen den Text in der Übersetzung Martin Luthers:

 

Bewahre mich, Gott; denn ich traue auf dich.

Ich habe gesagt zu dem Herrn: Du bist ja der Herr!

ich weiß von keinem Gut außer dir.

 

An den Heiligen, die auf Erden sind,

an den Herrlichen hab‘ ich all mein Gefallen.

Aber jene, die einem andern nachlaufen,

werden viel Herzeleid haben.

Ich will das Blut ihrer Trankopfer nicht opfern

noch ihren Namen in meinem Munde führen.

 

Der Herr ist mein Gut und mein Teil;

du hältst mein Los in denen Händen!

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;

mir ist ein schönes Erbteil geworden.

Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat;

auch mahnt mich mein Herz des Nachts.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen;

er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht.

Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich;

auch mein Leib wird sicher wohnen.

Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen

und nicht zugeben, dass dein heiliger die Grube sehe.

Du tust mir kund den Weg zum Leben:

Vor dir ist Freude die Fülle

und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.

 

 

Das Psalmgebet bringt ein tiefes und in seiner Grundsätzlichkeit schon fast unwirklich anmutendes Gottvertrauen zum Ausdruck, ein Gottvertrauen, das an keinen besonderen Anlass gebunden ist, eine Haltung zu Gott, die schier unerschütterlich wirkt. In dem tiefen Vertrauen besteht eine Parallele zu Psalm 23, den viele von uns einmal auswendig gelernt haben. Anders als Psalm 16 entfaltet Psalm 23 jedoch ein reiches und einladendes Bildprogramm. Da ist von grünen Auen, vom frischen Wasser, von einem schützenden Stecken und Stab und von einem gedeckten Tisch die Rede. Mit diesen schönen Bildern ist Psalm 23 ein Psalm, der einen in guten und schweren Tagen zu begleiten vermag. Dagegen klingt Psalm 16 strenger, abstrakter. Werbende Bilder findet man zwar in der Rede von den Händen Gottes, die das Los des Menschen halten, und dem lieblichen Land, das sie bereiten. Das mag erklären, warum Psalm 16 in der christlichen Spiritualität nicht so prominent geworden ist wie Psalm 23. Luther hat mit seiner Übersetzung den nachdenklichen Charakter des Psalms noch unterstrichen, wenn er eingangs übersetzt: „Ich weiß von keinem Gut außer dir.“ Hier lohnt ein Blick in andere Übersetzungen. In der Einheitsübersetzung heißt es „Mein Herr bist Du, mein Glück allein.“ Und ähnlich auch in der Züricher Übersetzung: „Du bist Herr, mein Glück ist nur bei dir.“ Das Wort „Glück“ gibt dem Psalm gleich einen anderen Klang.

 

Beide Übersetzungen für das Hebräische  ט֝וֹבָתִ֗י (Tobati) sind treffend. Das Gute und das Glück gehören für biblisches Denken und für christliche Theologie zusammen und bedingen sich wechselseitig. Das höchste Gute ist für christliches Denken Gott, nur in ihm findet das Herz und damit auch alles Streben nach Glück Erfüllung. So sagt es besonders eindrucksvoll Augustin. Und doch rufen die Rede vom Guten und vom Glück ganz unterschiedliche Assoziationen und Gefühle bei uns hervor. Das Gute soll erstreben, ja man muss es. Zugleich ist keineswegs störungsfrei. Denn in vielen Fällen wissen wir nicht treffsicher, was gut ist, für uns und für andere, oder wir meinen es zu wissen, und müssen im Rückblick feststellen, dass wir uns geirrt haben. Das ist im individuellen, privaten Bereich so, und ebenso auf gesellschaftlicher Ebene und im Bereich der Politik. Eine zweite Aporie im Verhältnis zum Guten legt Paulus im Römerbrief frei, wenn er schreibt: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Röm 7,18b.19) Diese Einsicht bildet den Wurzelpunkt des reformatorischen und insbesondere des lutherischen Verständnisses der Sünde. Sünde besteht nicht nur in der Übertretung der göttlichen Gebote, sondern Sünde bezeichnet eine Verstrickung in uns selbst. Und diese zeigt sich unter anderem, wenn wir nicht das tun, wovon wir wissen, dass wir es tun sollten und eigentlich auch tun wollen. Diese Erfahrung begegnet laufend im Alltag – in kleinen Dingen, mit denen wir anderen nicht weh tun, aber auch in Haltungen und Handlungen, mit denen wir anderen schaden oder weh tun. Z. B., wenn wir jemandem nicht vertrauen können oder keine Zuneigung zurückgeben können, obwohl wir es eigentlich wollen würden. Unser Streben nach dem Guten ist nicht störungsfrei und mit Widerständen und Anstrengung behaftet.

 

Ganz anders ist das mit dem Glück. Das Glück ist unmittelbar erstrebenswert. Wir müssen nicht überlegen, ob wir glücklich sein wollen. Das Glück geht einher mit Freude und Frohsinn, glücklich zu sein, ist ein schönes Gefühl. Wir genießen das Glück, wenn es uns ereilt. Das Glück möchte man nicht loslassen. Zwar gibt es viele Lebensläufe, in denen sich selten Glück einstellt, in denen Enttäuschung und Kummer überwiegen. Zuweilen begegnet man auch Menschen, die sich vornehmlich unzufrieden zeigen und von Glück für sich nicht sprechen wollen. Aber diese Ausnahmen bestätigen auf ihre Weise, dass das Glücksstreben dem Menschen natürlich ist, auch wenn es unterdrückt wird. Ohne die Hoffnung auf Glück kann man auch das Gute nicht mit Energie verfolgen. Das hat nicht zuletzt Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr erinnert wird, in seiner durchaus strengen Moralphilosophie zur Geltung gebracht. Kant war bei aller Strenge realistisch: Von Menschen die reine Moralität zu erwarten, ohne die Hoffnung auf Glück, ohne die Erfüllung menschlicher Sehnsucht nach Seligkeit – das ist nicht realistisch. Kant hat Gott darum als den Garanten dafür eingesetzt, dass der gute Mensch am Ende auch glücklich wird.

 

Wenn der Betende in Psalm 16 von Gott als seinem einzigen Glück spricht, dann denkt er Gott nicht nur als Garanten für die Belohnung der Moralität. Er denkt Gott als den Grund seines Lebensglücks in allen seinen Momenten. Das Gebet stammt aus nachexilischer Zeit, als Israel das gelobte Land hat verlassen müssen und die Rückkehr als großes Glück empfunden haben dürfte. Aber das Exil hat die Hoffnung Israels verändert. Zur Hoffnung auf das gute Leben im Diesseits kam die Hoffnung auf ein besseres Jenseits – ein Jenseits, das aus der Schleife befreien würde, die das Volk Gottes über Jahrhunderte hatte erleben müssen. Die jahrhundertelange Erfahrung war, dass dem Gebot und der Zuwendung Gottes immer wieder Ungehorsam und Unheil und Strafe folgten. Dann wieder reute es Gott und er schuf die Möglichkeit des Neuanfangs. Im Exil wurde klar: eine Erlösung aus dieser Schleife ist nicht unter diesseitigen Bedingungen nicht möglich. Erlösung muss über die immer neuen Trennungen von Gott und die bitteren Folgen für das Leben hinausführen. Wahre Erlösung muss die Möglichkeit aufheben, sich immer neu von Gott zu trennen und immer neu die Folgen der Trennung in Gestalt von Krieg und Vertreibung zu erleben. Wahre Erlösung gibt es erst, wenn man im lieblichen Land Gottes bleiben darf, ohne Vertreibung fürchten zu müssen.

 

Wo es diese Hoffnung gibt, besteht das Leben nicht mehr nur aus einzelnen Glücksmomenten, sondern hat eine neue Perspektive: die Glückseligkeit. Diese Hoffnung scheint in Psalm 16 auf. Glückseligkeit (beatitudo) enthält das Versprechen, dass menschliches Leben zur Erfüllung gelangt, zur Übereinstimmung mit dem, was der Mensch sein soll. Die Hoffnung darauf umhüllt das Leben des Betenden in Psalm 16. Denn er vertraut darauf, dass Gott seine Seele nicht dem Tode überlassen werde. Der Betende hofft, dass Gott ihn nicht in der Grube enden lässt, in der Gottferne, dass er den Tod überwindet und ihm die Fülle des Lebens schenkt. So ist zu verstehen, warum Psalm 16 in der römisch-katholischen Liturgie in der Osternacht gelesen wird. Die evangelische Leseordnung sieht ihn dagegen für die Trinitatiszeit vor – die Sommerzeit und die Erntezeit, in der die Helligkeit und Wärme die Zuversicht des Glaubens unterstützt, zu der der Psalm anleitet. Beide Orte im Kirchenjahr werden dem Psalm gerecht, die Osternacht ebenso wie die Trinitatiszeit. Vorhin hatte ich schon auf die Unterschiede in der Übersetzung hingewiesen, nun auf die Unterschiede in der Leseordnung. Erst in der ökumenischen Bewegung im 20. Jahrhundert haben die Kirchen gelernt, wie bereichernd die Wahrnehmung solcher Unterschiede und die Vielfalt der Glaubenspraxis sein kann.

 

Wie die Überwindung des Todesgrenze vorstellbar sein soll, lässt der Psalm offen. Aber der Psalm weist den Weg in eine bestimmte Richtung, wenn der Beter sagt: „Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.“ Er unterscheidet Leib und Seele, aber der Leib gehört unlöslich zu seinem Leben dazu. Seine Hoffnung, Gott möge ihn der Grube nicht überlassen, gilt nicht nur seiner Seele. Die Hoffnung auf eine leibliche Auferstehung klingt an wenigen Stellen im Alten Testament an. In Jesu Verkündigung wird sie bekräftigt. Wie wir in der Lesung des Evangeliums gehört haben, tröstet Jesus die Witwe von Nain, deren einziger Sohn gestorben ist, damit, dass er den Sohn ins Leben zurückholt. Mit den Erweckungsberichten wollen die Evangelien nicht nur die schöpferische Macht Jesu anzeigen, die über menschliche Kräfte hinausgeht. Sie zeigen auch, dass die Hoffnung über den Tod hinaus den Leib einbindet. Gleichwohl sind diese Zeichenhandlungen Jesu von seiner eigenen Auferweckung durch Gott zu unterscheiden. Denn Jesus wird zu einem neuen Leben auferweckt, das keinen Tod mehr vor sich hat. Die Auferweckung Jesu ist keine Rückkehr in dieses Leben, sondern der Beginn eines neuen und neuartigen Lebens. Von dieser Hoffnung weiß Psalm 16 noch nichts.

 

Aber in Psalm 16 wird deutlich, dass das Vertrauen auf Gott nicht an der Todesgrenze enden kann. Zu Beginn des Psalms bringt der Beter Gott eine Bitte entgegen, die einzige Bitte des Psalms: „Behüte mich“. Was folgt, ist der volle Ausdruck des Vertrauens. Dieses umfassende Vertrauen, das der Psalmbeter zum Ausdruck bringt, weckt einerseits Bewunderung und kann ansteckend wirken. Aber in Anbetracht des vielen Leides, das wir in der Welt in Gestalt von Kriegen, Unterdrückungen, Ungerechtigkeit wahrnehmen, kann man kaum umhin zu hadern, wie ein so ungebrochenes Vertrauen möglich sein soll. Wie kann Gott Leiden und Böses zulassen? Diese Frage lässt unser Psalm nicht einmal aufkommen. Aber woher wissen wir, dass der Beter sie nicht stellt, dass er nicht doch mit Gott hadert oder jedenfalls gehadert hat? Vielleicht ist sein Vertrauen, das er im Gebet ausdrückt, gar nicht so unerschütterlich. Vielleicht ist sein Gebet gar nicht nur eine Antwort auf erfahrene Güte, sondern auch eine Akklamation, ein Behaften Gottes damit, dass er als Schöpfer Leben bewahren möge. Denn von wem sollte sonst die Bewahrung des Lebens über den Tod hinweg erwartet werden wenn nicht von Gott? Das Gebet sagt nicht nur: ich vertraue auf Dich, Gott, sondern es sagt auch: Gott, wenn Du Gott bist, dann wirst Du mich behüten. So gelesen ist es eine einzige vertrauensvolle Bitte, eine Bitte, die sich eben nur an Gott richten kann, eine Bitte, die gute Erfahrung mit Gott extrapoliert und Gott bei seiner Güte behaftet.

 

Dietrich Bonhoeffer hat die Psalmen als das Gebetbuch der Bibel beschrieben, das uns an die Hand nimmt und anleitet, mit Gott zu sprechen. Er hat dieses Gebetbuch von Christus her ausgelegt. Christus nimmt uns im Vaterunser in sein Gebet mit hinein. Bonhoeffer schreibt: „Wenn er (Jesus) uns mit in sein Gebet hineinnimmt, wenn wir sein Gebet mitbeten dürfen, wenn er uns auf seinem Wege zu Gott mit hinaufführt und uns beten lehrt, dann sind wir von der Qual der Gebetslosigkeit befreit.“ Wir dürfen, ja wir sollen uns mit Jesus ins Gebet mit Gott begeben. Dafür können auch die Psalmen dienen. Das Gebet ist für Bonhoeffer eine Gabe, ein Geschenk, aber es ist auch eine Aufgabe. Wir dürfen und wir sollen beten. Im Beten werden nicht nur Dank und Bitte artikuliert, im Beten wird auch Vertrauen gewonnen und Gemeinschaft mit Gott gelebt. Mit dem Gebet tun wir etwas für unsere Gemeinschaft mit Gott. Wie verträgt sich das mit der Grundeinsicht der Reformation, dass wir für unser Heil nichts tun können, ja nichts tun sollen? Mit dieser Frage haben wir uns unter anderem im Sommerkurs am Centro Melantone beschäftigt. Wie Gottes Gnade zu verstehen ist und welche Rolle der Mensch beim Zustandekommen des Heils spielt – an dieser Frage schieden sich in der Reformationszeit die römische Kirche und die Kirchen der Reformation. An dieser Frage haben die Kirchen mit Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 neue Gemeinschaft gefunden. In diesem Jahr begehen wir das 25 Jubiläum dieser Erklärung. Es war ein Gewinn für die evangelischen Kirchen, sich im Rahmen dieser Erklärung noch einmal neu Gedanken zu machen über die Rolle der Werke des Menschen. Es ist richtig, dass wir uns das Heil nicht verdienen können, weil Gott es uns schenkt. Aber das heißt nicht, dass wir nicht etwas für unsere Frömmigkeit tun könnten. Wir können uns Zeit nehmen zu beten und in den Gottesdienst zu gehen und uns in den Glauben einzuüben, mit den Psalmen und mit vielen anderen Texten der Bibel. Dass wir zu Gott beten können, ist ein Geschenk. Aber dieses Geschenk will auch gebraucht werden. Zum Beispiel mit dem Beten der Psalmen.

 

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

16. Sonntag nach Trinitatis – Prof. Dr. Nüssel